Ungehörten Frauen eine Stimme geben
Fast 4 Milliarden Frauen leben auf unserem Planeten. Von ihnen kommen gerade die selten zu Wort, die häufig die interessantesten Geschichten zu erzählen haben.
anna.FM Kollegin Mirka Tiede möchte diesen Frauen mit dem Podcast eine Stimme geben und die Grauzone etwas bunter machen.
Fragen, die sich nicht jeder traut zu fragen. Ehrliche Antworten, die manchmal schockieren werden. Aber vielleicht können wir Euch neue Vorbilder präsentieren und mit manchen Vorurteilen bei Euch aufräumen.
Folge 1: Miss Shiva
Mirkas erster Gast ist Miss Shiva. Sie arbeitet in Karlsruhe als sogenannte Bizarrlady. Die gehören zwar zu den Dominas, sind aber viel berührbarer. Die Bizarrladys kämpfen noch immer mit zahlreichen Vorurteilen und das obwohl ihr Klientel vom Angestellten bis hin zu Managern, Geschäftsführern und hohen Tieren in Deutschland und weltweit reicht. Was Miss Shiva genau macht, welche persönliche Grenzen sie hat und was in ihren Augen passieren würde, wenn Sexarbeit und alles was mit Sex zu tun hat verboten werden würde, erzählt sie im Podcast Bunte Grauzone.
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040722_Podcast bunte Grauzone_Folge 1_Miss Shiva Mirka
Die Podcastfolge zum Nachlesen:
„Ich will nicht als Frischfleisch auf der Straße für irgendjemanden dienen“
Mirka: „Ich bin Mirka Tiede und ihr hört die allererste Folge von dem Podcast Bunte Grauzone. In dem Podcast spreche ich mit den unterschiedlichsten Frauen in Berufen oder Situationen, die nicht ganz der Norm entsprechen und auf den ersten Blick ziemlich ungewöhnlich oder schwierig sind. Mein Ziel ist es, Frauen in den Fokus zu rücken, die auf dem ersten Blick keine Vorbildfunktion haben und von denen wir alle trotzdem viel lernen können. Damit ihr wisst, mit wem ihr es überhaupt zu tun habt, etwas zu mir: Ich bin Mirka Tiede, 28 Jahre alt und arbeite beim Radio und hatte selbst bisher eigentlich weitestgehend ein ziemlich behütetes Leben. Habe studiert, bin schon seit Urzeiten mit meinem Mann zusammen und habe auch den schon recht früh geheiratet. In meiner Freizeit spiele ich vor allem eins gern: ‚Lacrosse.‘ Da kann es ab und an auch mal etwas härter zugehen. So wie bei meinem ersten Gast.“
Miss Shiva: „Ich will nicht als Frischfleisch auf der Straße für irgendjemanden dienen. Und ich glaube, das möchte keiner. Und ich glaube auch, jedes Elternteil oder jede Familie, die Kinder besitzt, möchte diese Gefahr auch nicht eingehen.“
Mirka: „Das ist mein erster Gast: Miss Shiva! Miss Shiva kommt aus Karlsruhe und arbeitet als Bizarrlady.“
„Die Bizarrlady gehört zu den Dominas, nur ist sie mehr berührbar als eine klassische Domina.“
Mirka: „Viele können sich jetzt wahrscheinlich nicht genau vorstellen, was eine Bizarrlady macht. Kannst du vielleicht kurz erklären, was? Was ist denn überhaupt dein Beruf?“
Miss Shiva: „Mein Beruf? Ja, man kennt so diese klassische Domina aus früheren Zeiten, aus Filmen, aus Erzählungen, aus Reportagen, aus allem Möglichen. Die Bizarrlady gehört zu den Dominas, nur ist sie mehr berührbar als eine klassische Domina. Ansonsten leben wir in unserem Beruf sehr viele Extreme aus, die man sich vielleicht so nicht vorstellen kann. Man kann sehr sanfte Dinge erleben, aber auch eben, wie ich sagte, viel Extremes, die man im Privaten nicht ausleben kann, weil der passende Partner fehlt, man sich nicht traut, vielleicht mit dem Partner darüber zu sprechen oder man einfach auch mal den Reiz verspürt, so was auszuprobieren, ob einem das liegt.“
Mirka: „Und wie kam es dazu, dass du gesagt hast: ‚Okay, jetzt werde ich Bizarrlady.'“
Miss Shiva: „Eigentlich eher eine witzige Geschichte. Ich hatte das Vergnügen, durch ein Event in dem Studio die Hausherrin kennenzulernen und bin mit ihr so ins Gespräch gekommen. Und wir haben uns direkt super verstanden. Und irgendwann kam sie zu mir her und hat gesagt, du würdest super in mein Team passen. Und dann sage ich: ‚Ich habe doch überhaupt keine Ahnung von dem Ganzen‘ – Für mich war das ja selbst Neuland – Da sage ich: ‚Ich kann doch gar nix.‘ Auch da musste mir erst mal der Unterschied zur klassischen Domina und Bizarrlady erklärt werden. Und irgendwie fand ich es spannend. Ich fand es auch immer spannend, auf den Events den Menschen zuzusehen. Wie gehen sie miteinander um? Da wird kein oder eher selten ein Safeword verwendet, sondern rein. Durch das Sehen und Spüren seines Gegenübers erkennt man, wo Grenzen sind und mich hat es wirklich, wirklich fasziniert. Und dann bin ich zu ihr hin und dann habe ich gesagt: ‚Okay, es interessiert mich, aber ich kann nix.'“
„Ein Körper zeigt, wo die Grenze ist“
Mirka: „Also ihr habt gar kein Safeword hier?“
Miss Shiva: „Die gibt es ja. Ich persönlich arbeite ohne.“
Mirka: „Macht es das unsicherer oder ist es einfach, dass die Kommunikation dann einfach direkter ist?“
Miss Shiva: „Ich finde und das ist wirklich nur meine persönliche Meinung. Ich finde, wenn man seinen Beruf beherrscht, dann sieht man seinem Gegenüber an wie weit kann ich gehen? Man sieht es. Ein Körper zeigt, wo die Grenze ist. Wie weit kann ich die Grenze überschreiten und wo wirklich, wirklich abgebrochen wird für den Moment?“
Mirka: „Es ist ja trotzdem wichtig zu kommunizieren. Das ist wahrscheinlich der zentrale Punkt bei euch – dieses Vertrauen und die Kommunikation zueinander.“
Miss Shiva: „Richtig. Diese Dinge werden natürlich vorher besprochen. Grob, wo liegen die Vorlieben meines Gegenübers? Passt es in meine Thematik überhaupt rein? Aber viel wichtiger sind für mich die Tabus von meinem Gegenüber. Was darf ich auf gar keinen Fall tun? Und an einem Mann erkennt man ja, arbeitet man richtig oder läuft es gerade in eine falsche Richtung?“
„Natürlich habe auch ich meine persönliche Grenze“
Mirka: „Du hast jetzt angesprochen, du hast Männer als Kunden, aber du hast ja nicht nur Männer als Kunden. Du hast gesagt, du hast keinerlei Einschränkungen, du machst es mit Anfängern, mit Fortgeschrittenen, mit Pärchen und auch mit Menschen mit Behinderungen.“
Miss Shiva: „Korrekt.“
Mirka: „Gibt es trotzdem irgendwo eine Grenze, bei der du sagst, die möchte ich nicht überschreiten?“
Miss Shiva: „Natürlich habe auch ich meine persönliche Grenze, ganz klar. Es gibt Dinge, die ich absolut verneine. Sexuellen Kontakt an mir verneine ich komplett. Möchte ich auch nicht haben. Menschen, die einfach nicht in meine Thematik passen, die Wünsche haben, die ich nicht erfüllen möchte. Ich mache nichts, was strafbar wäre. Und auch da gibt es Möglichkeiten in dieser Branche oder in diesem Bereich des SMs. Das verneine ich komplett und das sage ich auch ganz klar: ‚Nein, such‘ dir bitte eine andere.‘ Wenn mir jemand unsympathisch wäre. Auch da sage ich: ‚Bitte geh‘ woanders hin.'“
„Die Gesundheit von uns und unserem Gegenüber ist das höchste Gut.“
Mirka: „Wer überprüft denn überhaupt, dass Dinge gemacht werden, die strafbar sind oder nicht? Gibt es ja regelmäßig Kontrollen?“
Miss Shiva: „Nein, so kann man das nicht sagen. Es gibt Kontrollen, Personenkontrollen, die durchgeführt werden. Dass niemand hier illegal arbeitet. Was ich völlig in Ordnung finde, unterstütze ich auch total. Aber bei uns ist es gibt es wie gesagt Dinge in der Szene, die sind bekannt und da will ich auch gar nicht näher darauf eingehen. Oder wo wir einfach sagen: ‚Nö, möchten wir nicht.‘ Die Gesundheit von uns und unserem Gegenüber ist das höchste Gut. Das ist einfach wichtig, dass wenn jemand zu uns kommt, dass er genauso gesund auch wieder geht. Von daher. Ja.“
„Dieses Verlangen nach mehr. Das gibt mir diesen Kick“
Mirka: „Ja, du hast gesagt, Gesundheit ist dir wichtig. Du hast aber auch gesagt, dass du nicht sexuell berührt werden möchtest. Wie ist es denn vereinbar, dass man sexuelle Handlungen an jemand anderen durchführt, aber sich selber da komplett abschottet von. Also, wie funktioniert das denn?“
Miss Shiva: „Ja, wie funktioniert das denn? Man spricht ja immer so gern von dem Kick. Was ist der Kick in einem Beruf? Der Kick für mich persönlich ist, wenn ich sehe, dass das, was ich meinem Gegenüber tue oder nicht tue, mit ihm spiele, Handlungen durchführe, wenn er diese, diese Lust, diese ich nenne es mal diese Geilheit zeigt. Er will mehr. Dieses Verlangen nach mehr. Das gibt mir diesen Kick und nicht, ob jetzt mich jemand berührt oder irgendwas tun würde. Das ist nicht mein Kick.“
„Es gibt nicht diese typisch klassische Ausbildung“
Mirka: „Gibt es eine Ausbildung zur Domina oder zu Bizarrlady?“
Miss Shiva: „Nein. Es gibt nicht diese typisch klassische Ausbildung, die man kennt. Die gibt es nicht. Es gibt Seminare und Workshops, bei denen man gewisse Dinge lernen kann wie Bondage, wie tue ich jemanden mit Seilen verpacken, ohne dass ich irgendwelche Fasern, Muskeln, Nerven abschnüren. Das gibt es schon, aber keine klassische Ausbildung.“
Mirka: „Was war denn deine ursprüngliche Ausbildung? Du kommst ja ursprünglich gar nicht aus dem Bereich, hast du gesagt. Aber was hast du denn ursprünglich gemacht?“
Miss Shiva: „Ursprünglich bin ich in der Pharmazie und in der Medizin groß geworden.“
Mirka: „Und wie lange hast du dort gearbeitet?“
Miss Shiva: „15 Jahre.“
„Ich finde meine Arbeitsbedingungen hervorragend“
Mirka: „Du hast schon angesprochen, dass du dich eigentlich sehr wohlfühlst mit deinen Arbeitsbedingungen. Wie gut sind deine Arbeitsbedingungen generell?“
Miss Shiva: „Auch hier kann ich wieder nur für mich persönlich sprechen. Ich finde meine Arbeitsbedingungen hervorragend. Denn zum einen mache ich sie mir selbst. Das ist der Vorteil der Selbstständigkeit. Zum anderen sind wir hier ein wundervolles Team mit ausgesuchten Damen. In dem eine Harmonie untereinander herrscht. Es ist ein bisschen wie ein familiärer Zusammenhalt. Wir helfen uns gegenseitig. Es geht hier nicht darum, um ein Gast nach dem anderen irgendwie abzuarbeiten oder des Geldes wegen. Natürlich machen wir das, weil wir auch unser Leben damit unterhalten. Aber uns geht es eher um dieses Füreinander, Miteinander, gegenseitig helfen. Und ja, und selbst wenn mal ein Problem herrscht, dann geht man auf den anderen zu. Man bespricht es kurz und das Thema ist durch.“
„Ich finde Kommunikation und Zusammenhalt extrem wichtig.“
Mirka: „Ich habe es vorhin im persönlichen Gespräch schon mit dir gehabt. Also ich habe das Gefühl, dass eure Kommunikations-Art und Weise untereinander viel erwachsener ist, als ich das von anderen Arbeitsstätten kenne. Wie kommt es denn dazu, dass bei euch so erwachsen miteinander umgegangen wird und Kommunikation so gut funktioniert?“
Miss Shiva: „Ich finde Kommunikation und Zusammenhalt extrem wichtig. Ich finde Ehrlichkeit extrem wichtig und ich bin eigentlich schon davon überzeugt, dass es auch an dem gewählten Team liegt. Wenn man viele Dominas, die das schon deutlich länger machen als ich, mal fragt, was sie in ihrem Leben alles erlebt haben, da ist von ich wurde von der Kollegin beklaut bis was weiß ich alles Mögliche mit dabei. So was gibt es hier nicht.“
Mirka: „Also seid ihr schon auch untereinander stark miteinander vernetzt, also nicht nur innerhalb eures Teams, sondern auch über Deutschland hinaus, oder wie funktioniert das? Habt ihr da auch Conventions oder Messen?“
Miss Shiva: „Auch die gibt es durchaus. Es gibt verschiedene Conventions und Messen, zum Beispiel die Passion in Hamburg – eine der Messen. Dann in Berlin findet jedes Jahr eine Riesenmesse statt. Es gibt die BoundCon in München, wo dann auch die verschiedenen Händler sind. Wo Dominas vertreten sind, private Menschen. Bei denen danach Riesenpartys zusammen gefeiert werden. Da würde ich auch immer sagen: Die SM-Szene, egal ob jetzt vom Beruflichen gesehen oder vom Privaten gesehen ist eine sehr offene Szene. Die Menschen gehen aufeinander zu und da gibt es nicht dieses Typische wie auf der Straße: guck dir mal den an, der ist so dick. Oder: Guck dir mal den an, die Frisur passt ja gar nicht. Das ist weniger. Ich möchte es nicht ausschließen, dass es das nicht auch gibt. Aber das, was ich in meinem Leben habe erleben dürfen, war viel Offenheit, viele offene Arme, tolle Menschen, die ich bis heute habe kennenlernen dürfen. Und ich möchte keinen davon missen.“
„Mehr aufeinander zugehen als gegeneinander“
Mirka: „Hast du das Gefühl, die Gesellschaft kann sich irgendwie eine Scheibe von euch abschneiden?“
Miss Shiva: „Ich würde vielleicht mal sagen, in dem Thema Respekt und Akzeptanz wäre vielleicht so eine Möglichkeit. Bei dem wir uns vielleicht mehr wünschen würden, dass Menschen mehr aufeinander zugehen als gegeneinander oder toleranter sind. Das wäre, glaube ich, etwas. Aber ob man sich da jetzt von uns die Scheibe abschneiden kann, das lasse ich im Raum stehen.“
„Ich ziehe den Hut vor jeder Prostituierten“
Mirka: „Also du hast ja, ein sehr positives Bild von deinen Arbeitsbedingungen gezeichnet. Aber gibt es irgendwas, was du noch verbessern wollen würdest?“
Miss Shiva: „Ja, bestimmt. Bestimmt wird es das eine oder andere geben. Also zum einen werden wir ja auch gerne mit Prostituierten verglichen. Ich ziehe den Hut vor jeder Prostituierten. Vor jeder einzelnen ziehe ich den Hut. Es wäre für mich niemals eine Option. Nie, nie, niemals. Und da würde ich schon eher sagen, man sollte diese Branchen trennen, weil das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das wäre so was, wo ich persönlich mehr wünschen würde.“
Mirka: „Wie ist das denn mit der Altersvorsorge? Also habt ihr eine geregelte Altersvorsorge? Also du bist jetzt selbstständig, also wahrscheinlich machst du dir deine Altersvorsorge selbst. Aber wie ist es denn bei deinen Kolleginnen und Kollegen?“
Miss Shiva: „Wir sind alle selbstständig. Ja, also zumindest hier im Studio. Ich könnte jetzt kein Studio benennen oder keine Dame benennen, die im Angestelltenverhältnis in einem Studio wäre. Wir sind alle selbstständig. Natürlich sind wir auch dementsprechend für unsere private Altersvorsorge selbst zuständig. Ich für mich habe das geregelt. Und ja, sehen wir mal, was es noch wert ist, wenn wir in dem Alter sind.“
„Es gibt mit Sicherheit die eine oder andere, die auch schon die 70 überschritten hat“
Mirka: „Wie lange kann man das denn noch durchführen? Also wie alt ist quasi die älteste Bizarrlady, die du kennst?“
Miss Shiva: „Die ich kenne. Gute Frage. Ich kenne die nicht persönlich, aber es gibt mit Sicherheit die eine oder andere, die auch schon die 70 überschritten hat.“
Mirka: „Kannst du dir vorstellen, das auch so lange zu machen?“
Miss Shiva: „Vorstellen könnte ich es mir generell schon. Aber ob ich es möchte bis ins Rentenalter, lasse ich offenstehen. Weiß ich nicht. Dafür habe ich eine Ausbildung gemacht. Das ist jetzt nicht das ich aus dem Nichts komme. Also ich habe immer wieder die Chancen auch in einen anderen Beruf wieder einzusteigen.“
Mirka: „Du hast ja auch eine Ausbildung in einem anderen Beruf gemacht. Könntest du dir vorstellen, da wieder zurückzugehen?“
Miss Shiva: „Nein, nein. Also nicht in diesen Beruf. Nein.“
„Ich bin einfach frei“
Mirka: „In anderen Berufen ist es ja so, dass es vielen Leuten schwerfällt, Berufliches und Privates miteinander zu trennen. Und es vermischt sich ja auch viel. Wie wichtig ist aber für dich die Trennung? Also nimmst du auch Arbeit mit nach Hause?“
Miss Shiva: „Nein, das habe ich 15 Jahre vorher getan. Ich glaube, das kennt jeder, der in seinem Job tätig ist. Er geht nach Hause oder er ist auf dem Nachhauseweg und die Gedanken schwirren immer noch im Geschäft. Und das habe ich nicht gemacht. Und morgen muss ich das noch. Und oje. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, der das nicht kennt. Seit ich diesen Beruf mache, schließe hier abends die Tür ab, steige in mein Auto und ich bin frei. Ich bin einfach frei. Ich habe nie etwas mit nach Hause genommen. Nie.“
Mirka: „Also auch keinen emotionalen Ballast. Das ist beeindruckend.“
Miss Shiva: „Ich kenne das, aber ich trenne es auch wirklich strikt, muss ich ganz ehrlich sagen. Beruf ist Beruf und privat ist privat.“
„Ich mache überhaupt gar kein Geheimnis drum“
Mirka: „Und wie ist es jetzt im privaten Rahmen, wenn du Leute neu kennenlernst, also erzählst du ihnen vom Beruf oder hast du das Gefühl, ich muss erst mal ein bisschen warten? Ich muss eher eine Vertrauensbasis schaffen, bevor ich mit Leuten darüber rede.“
Miss Shiva: „Nein, gar nicht. Ich mache überhaupt gar kein Geheimnis drum. Ich habe meine Webseite auf meinem Auto hinten drauf. Ich habe von T-Shirts über Pullover, über Kugelschreiber, Feuerzeuge oder irgendwas, überall mit meiner Werbung, mit meiner Handynummer drauf. Ich mache überhaupt kein Geheimnis daraus. Ich finde es im Gegenteil extrem wichtig, darüber zu sprechen, weil es so viele Vorurteile uns gegenüber gibt. Und genau dies aus dem Weg zu räumen. Und man merkt okay, man stößt manchmal auf verschlossene Türen. Ich zwänge mich niemandem auf. Wenn ich aber jemandem sage: ‚Hey, hör zu, ich bin eine Domina‘, wenn ich gefragt werde: ‚Nee, komm, ach komm, erzähl mir nichts.‘ ‚Doch, es ist so!‘ ‚Ja, komm.‘ Und wenn ich dann mal anfangen zu erklären, was ich eigentlich tue, dass das mit Sex oder sexuellen Dingen… Na ja, gut, es hat ja schon was mit sexuellen Handlungen zu tun, aber halt nicht miteinander, sondern hat oft auch therapeutische Zwecke. Es ist so viel tiefgründiger, als wir dargestellt werden. Wenn man nur mal als Beispiel nimmt: Wie wäre denn unsere Vergewaltigungsrate? Wie wäre die häusliche Gewalt, wenn es uns nicht geben wird? Wenn es keine Prostituierten geben würde, wo wären wir dann? Ich glaube die Zeiten von Corona haben dies sehr gut verdeutlicht, wie schnell diese Zahlen nach oben steigen und von der Dunkelziffer wollen wir gar nicht reden. Aber soweit denken Menschen nicht. Das wird in eine Schublade reingetan: ‚Ah ja, hier kommen die.‘ Und das finde ich einfach schlimm. Ich meine, verurteilen wir einen Metzger, weil er Tiere tötet und auseinandernimmt? Was nachher von uns gegessen wird? Wird der verurteilt? Also ich zieh da schon gerne mal echt ein paar Extreme. Aber dann, wenn man so im Gespräch mit den Menschen ist: ‚Aha, das hätte ich aber nie gedacht,‘ und so. Ja, man muss aber auch die Offenheit haben, sich das auch mal anzuhören. Es gibt immer zwei Seiten von einer Medaille. Nicht alles, was in die Öffentlichkeit raus gezeigt wird, ist entsprechend dem, was hinten dran steht.“
„Es schwant dann echt Böses auf Straßen.“
Mirka: „Wie krass wäre es denn, wenn man sagen würde, Sexarbeit und alles was mit Sex zu tun hat, wäre jetzt einfach komplett verboten?“
Miss Shiva: „Ich möchte ehrlich sein und nicht darüber nachdenken. Weil ich glaube, es schwant dann echt Böses auf Straßen. Ich will nicht als Frischfleisch auf der Straße für irgendjemand dienen. Und ich glaube, das möchte keiner. Und ich glaube auch, jedes Elternteil oder jede Familie, die Kinder besitzt, möchte diese Gefahr auch nicht eingehen. Ich glaube, das wäre, wäre sehr schwierig.“
„Es gibt so viele Vorurteile.“
Mirka: „Du hast es auch angesprochen. Es gibt wahnsinnig viele Vorurteile, mit denen ihr euch rumschlagen müsst. Was ist denn das größte Vorurteil?“
Miss Shiva: „Ja, dass wir nicht gebildet sind, dass man quasi vom Straßenstrich zur Domina kommt oder wie auch immer. Ja, es gibt so viele Vorurteile. Ich finde es sehr traurig, wenn man sich überlegt, mit welchem Klientel wir es zu tun haben. Das sind jetzt und da möchte ich nicht irgendwie böse sprechen oder so, aber das sind keine Geringverdiener. Natürlich beginnt es beim Angestellten bis hin zu Managern, Geschäftsführern, hohe Tiere in Deutschland oder weltweit egal. Möchten die jemanden gegenübersitzen, sich von jemandem dominieren lassen, erniedrigen lassen, der nichts in der Birne hat? Weiß nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen. Auch da denke ich immer Optik ist nicht immer alles. Charakter. Ich finde, der Charakter macht den Menschen schön und genauso arbeite ich.“
„Man kann das nicht beschreiben, weil die SM-Szene so vielfältig ist.“
Mirka: „Du hast mir ja auch die Kerker vorhin gezeigt und da lassen sich über Nacht auch welche einsperren. Wird das auch extra berechnet?“
Miss Shiva: „Ja, das wird auch extra berechnet. Das kommt glaube ich immer drauf an. Was möchte jemand? Wie lange möchte jemand da sein? Kann man den Menschen alleine lassen? Muss man in der Nähe sein? Da kann man. Es gibt keine fixen Beträge. Viele kommen und sagen Ich habe Budget XY. Bitte gestalte mir da was draus.“
Mirka: „Kannst du vielleicht auch mal so eine – ja, 08/15 kann man da nicht wirklich sagen, aber so eine allgemeine Session einfach mal so beschreiben? Was macht ihr denn da?“
Miss Shiva: „Was machen wir da? Man kann das nicht beschreiben, weil die SM-Szene so vielfältig ist. Das kann sein von jemandem, der sich einfach nur erniedrigen und demütigen lassen möchte, bis hin zu einem Kliniker, der eine OP-Simulation gespielt haben möchte. Oder Menschen, die einfach masochistisch veranlagt sind und sich schlagen lassen. Also auch da, die Spannbreite geht von bis.“
„Für mich leider realitätsfremd und viel zu sexlastig“
Mirka: „Du hast gesagt, die Szene, die ist vielfältig. Jetzt gibt es natürlich auch gern mal Filme, die diese Szene aufgreifen, zum Beispiel Fifty Shades of Grey. Was hältst du denn von dem Film?“
Miss Shiva: „Gar nichts. Nein, ich halte nichts von dem Film. Das ist vielleicht ein schöner Einsteigerfilm für privat zu Hause. Für mich leider realitätsfremd und viel zu sexlastig.“
Mirka: „Was sind denn die größten Punkte, die dich beim Film am meisten aufgeregt haben?“
Miss Shiva: „Ja gut, aufgeregt. Ich habe die Bücher damals gelesen. Ich habe auch alle Filme angeschaut. Es ist wirklich mehr Softeinsteiger-Privat-zu-Hause-Film.“
Mirka: „Jetzt gibt es natürlich nicht nur Filme, sondern auch Pornos, die das Thema gerne behandeln. Natürlich ist es da wahrscheinlich nicht sehr realistisch dargestellt, oder?“
Miss Shiva: „Jetzt müsste man definieren, was wir unter Porno verstehen.“
Mirka: „Ja, die, die man so im Internet findet, wenn man sich so ein bisschen rumklickt.“
Miss Shiva: „Ja, für mich ist Porno sexuell. Da sind wir ja dann schon wieder von der SM-Szene fremd. Es gibt durchaus Filme oder ja doch Filme, die realitätsnah sind. Aber auch da gibt es Filme, wo ich sage: ‚okay, sie haben einfach mit der Realität nichts zu tun.‘ Ich selbst habe auch schon vier Filme gedreht und ja, auch da ist es nicht 100 Prozent zu dem, was man wirklich tun kann. Aber auch da gibt es einfach Vorgaben, was man verfilmen kann, wie weit man gehen kann und was definitiv nicht verfilmt werden sollte.“
Mirka: „Du hast Filme gedreht. Was für Filme?“
Miss Shiva: „Session Filme. Es gibt Klinikfilme, Studiofilme mit verschiedenen Handlungen, verschiedenen Personen.“
Mirka: „Würde das als DVD gepresst oder wurde das dann ins Internet hochgeladen?“
Miss Shiva: „Beides. Genau.“
Mirka: „Du hast gesagt, da gibt es Vorgaben. Warum gab es da Vorgaben?“
Miss Shiva: „Also bei uns ist es so mit den Menschen, mit denen ich meine Filme drehe zum Beispiel, es dürfte jetzt kein Blut zu sehen sein, oder es dürften jetzt keine babyartigen Kleidungen etc. getragen werden solche Dinge.“
Mirka: „Aber das waren jetzt selbst auferlegte Richtlinien oder waren das Vorgaben, die dir gestellt wurden?“
Miss Shiva: „Es gibt also zum Verkauf von DVDs gibt es schon auch Vorgaben.“
Mirka: „Und wenn man es ins Internet hochlädt, gibt es da auch Vorgabe?“
Miss Shiva: „Auch da gibt es Vorgaben. Ja, und deswegen gehen wir da direkt von ab. Man muss nicht alles tun und reden und machen und dann kann man das auch wunderbar vermarkten.“
Mirka: „Du hast gesagt, es gibt Filme, die die Realität ein bisschen näher treffen – nicht vollständig, aber immerhin näher. Kannst du da Beispiele nennen?“
Miss Shiva: „Ja. Also wenn man jetzt Filme wie Fifty Shades of Grey nimmt, da finde ich dann schon wieder den Film My Mistress etwas realitätsnah – im Vergleich zu Fifty Shades of Grey. Ansonsten würde ich wirklich sagen, es gibt DVDs in entsprechenden Handlungen, die dann schon eher den Einblick in unsere Arbeit zeigen als jetzt eine Reportage oder ja.“
Mirka: „Hast du das Gefühl, dass die Themen in den Medien ein bisschen zu kurz kommen?“
Miss Shiva: „Zu kurz? Weiß ich nicht. Falsch dargestellt? Schon eher.“
„Akzeptanz, Toleranz und Respekt“
Mirka: „Und zum Schluss jetzt noch die abschließende Frage. Wenn du die Gesellschaft ändern könntest, von jetzt auf gleich. Also du hast einen Wunsch und sobald du diesen Wunsch ausgesprochen hast, tritt dieser Wunsch ein. Was wäre denn dieser Wunsch?“
Miss Shiva: „Das kann ich in drei Worten wunderbar beschreiben Akzeptanz, Toleranz und Respekt.“
Mirka: „Dann bedanke ich mich ganz aufrichtig für dieses Interview. Ich finde es so schön, dass du uns diesen Einblick gegeben hast.“
Miss Shiva: „Und ja, da darf ich auch mich herzlich bedanken, dass ich überhaupt diese Möglichkeit bekommen habe und auch Menschen außerhalb dieser Szene hoffentlich einen Einblick geben konnte, dass wir einfach nicht nur ein bisschen schlagen oder so, sondern dass das alles schon etwas tiefgründiger ist.“
Mirka: „Dann bedanke ich mich ganz, ganz, ganz herzlich.“
Miss Shiva: „Vielen Dank.“
Mirka: „Und tschüss.“
Miss Shiva: „Tschüss!“
Folge 2: Die Karlsruher Babyklappe
Mirkas zweiter Gast ist Ursula Kunz, Leiterin des Projekts „Findelbaby“ in Karlsruhe. Zehn Jahre lang arbeitet Frau Kunz schon in der sogenannten Babyklappe. Früher hätte sie nur wenig Verständnis für eine Frau gehabt, die ihr eigenes Kind abgibt. Durch die Schwangerenberatung hat sich ihre Sicht darauf vollständig verändert. Warum die Babyklappe überflüssig werden könnte und was ihr krassestes Erlebnis war erzählt Ursula Kunz in der neuen Folge vom Podcast Bunte Grauzone.
Jetzt reinhören:
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040722_Podcast bunte Grauzone_Folge2_Ursula Kunz_Babyklappe Mirka
Die Podcastfolge zum Nachlesen:
„Das hat mir die Tränen in die Augen getrieben.“
Mirka: „Hallo zurück zur zweiten Folge vom Podcast „Bunte Grauzone. Mein Name ist Mirka Tiede. In dem Podcast rede ich mit Frauen in ungewöhnlichen Berufen oder Situationen, die nicht ganz der Norm entsprechen oder die ungewöhnlich und schwierig sind. Diese Frauen haben auf den ersten Blick nicht unbedingt eine Vorbildfunktion. Trotzdem können wir alle viel von ihnen lernen. So auch von meinem nächsten Gast.“
Ursula Kunz: „Das erste Kind in meiner Amtszeit habe ich dann auch in der Klinik besucht und da habe ich gemerkt, dass das kann ich nicht aushalten, also diese 50 Zentimeter Mensch in dieser Einsamkeit auch zu erleben. Das hat mir die Tränen in die Augen getrieben.“
Mirka: „Das ist Ursula Kunz. Sie arbeitet als Leiterin beim Projekt Findelbaby in Karlsruhe, also bei der sogenannten Babyklappe. Dort können Frauen anonym ihr Kind abgeben, wenn sie es nicht mehr behalten wollen.“
„Wenn es dann tatsächlich passiert ist, dann macht sich bei manchen Frauen eine Panik breit.“
Mirka: „Das ist ja eine Situation, die sich wahrscheinlich vor allem Männer gar nicht so sehr vorstellen können, weil Männer für gewöhnlich, wenn sie nicht selber eine Frau geschwängert haben, sich mit dem Thema Schwangerschaft in den meisten Fällen gar nicht auseinandersetzen. Ich bin ja jetzt eine junge Frau und man kriegt eingetrichtert: Werd‘ bloß nicht schwanger, werd‘ bloß nicht ungewollt schwanger. Mädchen haben deswegen eine andere Perspektive zu dem Thema als Jungs. Wie haben Sie denn das Gefühl, wie sich das in der Gesellschaft widergespiegelt? Also redet man häufig genug über diese Themen oder kommen diese Themen einfach zu kurz?“
Ursula Kunz: „Offensichtlich kommen sie tatsächlich manchmal noch zu kurz. Diese Drohung – das wundert mich jetzt, dass Sie das als junge Frau sagen, weil das habe ich als junge Frau erlebt und habe eigentlich gehofft, dass es jetzt vorbei wäre. ‚Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause.‘ Gut, in den Schulen ist das Thema Aufklärung ein Thema. Ich höre aber immer wieder, dass es eben nicht behandelt wurde, dass man in der Schule da nichts drüber gehört hat. Dann ist es oft auch in einer Altersklasse, in der es ein Kicherthema ist. In der es nicht richtig ernst genommen wird. Bei der es einfach noch meilenweit entfernt ist, schwanger werden zu können. Ja, und ich glaube, wenn es dann tatsächlich passiert ist, dann macht sich bei manchen Frauen eine Panik breit. Ein ja, ein inneres Leugnen auch. Was nicht sein darf, ist auch nicht. Und irgendwann lässt sich halt nicht mehr leugnen. Und viele Frauen berichten. Irgendwann war es zu spät, drüber zu reden. Es war zu spät, über einen Abbruch nachzudenken. Es war einfach nur noch peinlich, irgendwann mit zwei Dritteln vollendeter Schwangerschaft drüber zu reden, dass man dieses Kind nicht haben möchte. Und die meisten Frauen berichten, dass sie dann irgendwie sich wie in so einem Tunnel gefühlt haben. Links und rechts nichts mehr sehen konnten, nichts mehr wahrnehmen konnten, keine Recherche mehr machen konnten, auch niemanden einweihen wollten. Und die große Hoffnung war, das Kind wird geboren, ich gebe das Kind weg und dann geht mein Leben wieder da weiter, wo ich mich so zurückgezogen habe.“
Mirka: „Ja, natürlich. Jetzt nicht falsch verstehen. Meine Eltern hätten mich jederzeit unterstützt, wenn ich schwanger geworden wäre. Aber es ist ja schon ein bisschen so, wenn man schwanger wird, dass es gerade im jungen Alter, wenn es um das Thema Bildung geht, dass es wahnsinnig schwierig ist, Bildung und ein Kind miteinander unter einen Hut zu bringen.“
Ursula Kunz: „Das ist richtig.“
Mirka: „Wann ist denn der richtige Zeitpunkt, über dieses Thema mit Kindern zu reden?“
Ursula Kunz: „Ich glaube, es gibt keinen richtigen und keinen falschen Zeitpunkt. Es ist vielleicht richtig und wichtig, über Konsequenzen einer möglichen Schwangerschaft zu sprechen. Oder wenn jetzt Eltern mitbekommen, dass der Sohn, die Tochter, so die erste Partnerschaft angeht, sich da nicht zu scheuen, auch das Thema Verhütung anzusprechen. Da eine Offenheit zu bringen. Ich weiß von meinen eigenen Kindern, dass es total peinlich ist, mit den eigenen Eltern darüber zu sprechen. Aber es gibt ja genügend Online-Beratungsangebote und unverfängliche Möglichkeiten, sich Informationen zu besorgen. Und ich glaube, das wäre schon eine wichtige Aufgabe für Eltern zu sagen Da könnt ihr mal anrufen oder geht mal auf die Homepage, schaut euch das an. Nicht, dass eine ungewollte Schwangerschaft entsteht. Weil eine ungewollte Schwangerschaft ist immer ein Problem. Nicht jede ungewollte oder nicht jede ungeplante Schwangerschaft bleibt eine ungewollte Schwangerschaft. Aber ich stelle das auch in meiner Arbeit in der schwangeren Beratungsstelle immer wieder fest, dass Frauen, die jetzt eine Schwangerschaft nicht geplant haben, die vielleicht auch mit dem Partner noch nicht lang zusammen sind, die gar nicht wissen funktioniert die Partnerschaft und dann eine gemeinsame Elternschaft darauf zu wuppen. Es ist schon eine große Belastung, da eben einfach auch drüber zu reden, dass es Möglichkeiten gibt, das zu verhindern bzw. dann auch darauf hinzuweisen: Es gibt Beratungsstellen, wo man sich kostenlos anonym beraten lassen kann, also auch schon junge Menschen, die nicht schwanger werden wollen – das klingt jetzt paradox: In einer schwangeren Beratungsstelle willkommen – weil natürlich auch das Thema Verhütung ein Thema ist, über das man neutral mit fremden Menschen vielleicht besser spricht als mit den eigenen Eltern.“
Mirka: „Haben Sie das Gefühl, dass Eltern die Jungs auch motivieren sollten, in solche Beratungsstellen zu schicken, damit sie präventiv auch ein bisschen mehr über Schwangerschaften lernen?“
Ursula Kunz: „Ja, unbedingt. Ganz wichtig. Aber es ist, glaube ich, immer noch so, dass Eltern so denken: ‚Na ja, die Jungs, die sind auf der sicheren Seite, die können einfach nicht schwanger werden.‘ Aber die können natürlich unterhaltspflichtig werden. Und das hat auch erhebliche Konsequenzen, dass selbst wenn der Staat erst mal dafür aufkommt, hat ein junger Mann einfach erst mal Schulden, die er dann wieder tilgen muss. Und von daher ja, gemeinsame Verantwortung da zu übernehmen und auch die Jungs ein bisschen mehr ins Boot zu holen, zu sagen, es ist nicht nur der Job von den Frauen oder von den Mädchen, sich um Verhütung zu kümmern, sondern es gehören da auch zwei Leute dazu.“
„Es geht durch alle Altersgruppen“
Mirka: „Also ich bin jetzt 28 und ich bin selber Gott sei Dank nicht ungewollt schwanger geworden bisher. Ich bin jetzt auch verheiratet, das heißt, wenn ich ein Kind bekomme, bin ich in einer komplett anderen Perspektive als Frauen, die ihre Babys bei ihnen abgeben. Was sind denn überhaupt die Gründe, dass Babys abgegeben werden?“
Ursula Kunz: „Das ist eine gute Frage. Als es nur die Babyklappe gab und keine anderen Angebote der anonymen Kindsabgabe, haben wir eigentlich immer nur Vermutungen anstellen können. Das ist eine anonyme Übergabesituation, in der die Frauen ganz selten mal Kontakt aufnehmen und man eigentlich von den Frauen nichts erfährt. Also es gab mal vor circa zehn Jahren eine Studie vom Deutschen Jugendinstitut. Die haben wenige Interviews von Frauen gehabt, die sich im Nachhinein für ein Interview zur Verfügung gestellt haben. Und da waren die Beweggründe, na ja, wie soll ich sagen, banal auf gar keinen Fall – für die Frauen existenziell. Aber wenn diese Frauen möglicherweise eine Beratungsstelle aufgesucht hätten in der Schwangerschaft, hätte man die eine oder andere Hürde vielleicht bewältigen können, mit Unterstützung begleiten können. Und es wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, die Kinder anonym ins Leben zu schicken. Die Beweggründe von Frauen sind oft wirklich, dass sie sich überfordert fühlen, keine Perspektive sehen, dem Kind nichts bieten können. Das ist eigentlich ein Satz, den man da sehr oft hört. Und der Wunsch mit dieser anonymen Übergabemöglichkeit ist es oft, dem Kind ein besseres Leben ermöglichen zu wollen, als man selber könnte.“
Mirka: „Geben nur junge Frauen ihre Babys ab oder auch ältere Frauen.“
Ursula Kunz: “Wenn man die Bevölkerung fragen würde: ‚Was glauben Sie denn, welche Frauen sind es, die ihre Kinder in die Babyklappe legen?‘ Dann würden, glaube ich die meisten sagen: ‚Ja, das sind halt junge Mädchen, die ungeplant schwanger wurden und es vor ihren Eltern verheimlicht haben und das Kind loswerden wollten.‘ Die Realität ist eine andere. Also durch die vertrauliche Geburt lernen wir die Frauen ja jetzt auch kennen. Und ich kann sagen, es geht durch alle Altersgruppen, aber am allerwenigsten sind es die ganz jungen Mädchen. Und es geht um Frauen, die in Beziehungen leben. Es geht um Frauen, die alleine leben. Es geht um Frauen, die ihr Leben neu organisieren wollen, neu orientieren wollen. Und es ist eigentlich jede Altersklasse vertreten.“
„Der Gesetzgeber war einfach aufgefordert, ein Angebot zu machen, das rechtlich sicher ist.“
Mirka: „Sie haben es jetzt schon häufiger angesprochen, Stichwort ‚vertrauliche Geburt.‘ Was kann man sich denn darunter vorstellen?“
Ursula Kunz: „Die vertrauliche Geburt ist ein gesetzlich geregeltes Angebot, das es seit Mai 2014 gibt. Der Gesetzgeber war einfach aufgefordert, ein Angebot zu machen, das rechtlich sicher ist. Das auch allen Beteiligten Handlungssicherheit bietet und das vor allen Dingen auch den Kindern, die abgegeben werden, eines Tages ein Wissen um ihre Herkunft einräumt. Und die vertrauliche Geburt ist ein Gesprächsangebot auch für Frauen. Eben sich rechtzeitig über alle Möglichkeiten zu informieren, über finanzielle Unterstützungen, über reguläre Adoptionen bis hin zur vertraulichen Geburt, wenn alles andere nicht in Frage kommt. Und die vertrauliche Geburt ermöglicht es den Frauen, unter einem Pseudonym anonym zu bleiben. Die wählen sich dann einen ausgedachten Namen, müssen nur der schwangeren Beraterin gegenüber einmal ihre Identität nachweisen. Also nur die Schwangerenberaterin, mit der die Frau im Kontakt steht, weiß, wer es wirklich ist. Alles andere läuft unter einem Decknamen. Und mit diesem Pseudonym kann die Frau Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, kann in der Klinik entbinden. Das Kind kann in der Klinik gleich versorgt werden, sie kann Nachsorge in Anspruch nehmen. Also die medizinische Versorgung von Frauen ist 100 % besser als mit allen anderen Angeboten, weil wir auch von den Übergaben in der Babyklappe wissen, dass die meisten Kinder zu Hause geboren werden – ohne medizinische Hilfe. Das kann man immer sehr gut am Zustand des Nabels erkennen, wenn der entweder gar nicht abgebunden ist oder mit nicht medizinischem Material, wo man weiß, da war weder eine Hebamme dabei noch ein Arzt dabei. Die meisten Frauen, glaube ich, bekommen die Kinder dann zu Hause und die meisten werden dann auch zeitnah zur Geburt in die Babyklappe gegeben.“
Mirka: „Ersetzt die vertrauliche Geburt auch die typische Babyklappe, wie man es kennt? Also wird die Babyklappe in Zukunft abgeschafft?“
Ursula Kunz: „Das wäre glaube ich ein großer Wunsch. So wäre auch mein Wunsch, weil die vertrauliche Geburt auf jeden Fall für die Frau viel mehr Möglichkeiten, viel mehr Sicherheit bietet und eben auch die Kinder eines Tages erfahren können. Wer war denn meine Mama? Und bei der Babyklappe haben die Kinder eines Tages nichts an Erinnerung, außer das, was sie am Leib getragen haben. In der Babyklappe sind keine Briefe dabei, da ist kein Hinweis dabei, warum und wieso. Das war in früheren Jahren ab und zu mal so. Also ich bin jetzt seit zehn Jahren in der Koordination der Babyklappe. Seitdem habe ich es nur ein einziges Mal erlebt, dass eine Frau einen Brief an ihr Baby geschrieben hat und erklärt hat, warum sie sich so entschieden hat. Und alle anderen Kinder kamen so wie sie waren in die Babyklappe und haben nie irgendwas erfahren können, warum und wieso und weshalb und wer. Wer war meine Mutter? Wer waren meine Eltern? Und ich glaube, das ist für ein Kind schon eine schwere Belastung. Wenn man anfängt Fragen zu stellen, keine Antworten finden zu können. Von daher wäre es schon mein Wunsch, dass die Babyklappe sich irgendwann überflüssig macht und dass die Frauen genügend Vertrauen haben, dass die vertrauliche Geburt wirklich eine vertrauliche Angelegenheit ist.“
Mirka: „Glauben Sie nicht, dass es größere Hemmungen gibt, die Babys abzugeben, wenn man vorher sich mit jemandem beraten muss?“
Ursula Kunz: „Das war auch immer meine Fantasie. Als dieses Gesetz an den Start ging, war ich ein sehr großer Skeptiker. Ich fand es kompliziert. Ich fand es für die Frauen eigentlich auch eine Zumutung und habe so gedacht: ‚Ich bin mal gespannt, ob das überhaupt jemand in Anspruch nimmt.‘ Mittlerweile habe ich einige Verfahren begleitet und kann sagen, die Frauen sind froh, einen Ansprechpartner zu haben. Jemandem, dem sie es mal erzählen können, was passiert ist, weil die meisten auch im Kontext vertrauliche Geburt isolieren sich und ich erlebe eine sehr große Bereitschaft, die Geschichte zu erzählen, die Beratung auch anzunehmen. Und ja, natürlich immer mit dem Hinweis, es ist vertraulich. Das, was wir besprechen, bleibt in diesen vier Wänden. Es erfährt niemand etwas von mir. Und es ist schon, eine Entlastung für die Frauen, auch wenigstens einer Person das erzählen zu können. Ich erlebe es auch immer als einen sehr großen Vertrauensvorschuss. Also Frauen, die mich noch nie getroffen haben, die ich noch nie getroffen habe, die bringen so ein großes Vertrauen einem entgegen. So wie wenn sie dieses Paket ‚Ich bin schwanger‘ jetzt bei uns auf den Tisch stellen und sagen: ‚Jetzt packt du mal aus und ich weiß, dass du das machst.‘ Und was dieses Wissen um die Herkunft angeht. Also die Frauen müssen ja ihre Daten hinterlassen. Das wird in einem verschlossenen Umschlag aufbewahrt und an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten geschickt. Die Frauen wissen von Anfang an, dass das Kind mit dem 16. Lebensjahr das Recht hat, diesen Umschlag anzufordern und nachzulesen: Wer war meine Mutter? Und das schien mir eigentlich immer die größte Hürde zu sein. Man macht eine Geburt, vertraulich, anonym, man weiht niemanden ein. Und dann könnte es passieren, dass eines Tages ein Kind vor der Tür steht und sagt: ‚Hallo Mama!‘ Und das ist für mich die größte Überraschung, dass das für die Frauen nicht die größte Hemmschwelle ist. Also der Wunsch nach Anonymität richtet sich eigentlich eher gegen die aktuelle Lebenssituation der Frauen als gegen das Kind. Und das war für mich wirklich ein Überraschungseffekt.“
„Wir sind dann eigentlich mit dem Vollzug der Entscheidung konfrontiert“
Mirka: „Gehen wir mal ein bisschen mehr auf das Projekt in Karlsruhe ein. Wie groß ist denn das Team, in dem Sie arbeiten?“
Ursula Kunz: „Also das Team der Babyklappe, meinen Sie nehme ich mal an.“
Mirka: „Genau.“
Ursula Kunz: „Das sind so insgesamt 16 Frauen, die arbeiten aber nicht alle im sogenannten ‚Klappendienst.‘ Das Projekt Findelbaby setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen. Das eine ist die Übergabestation ‚Babyklappe‘. Das andere ist das Notruftelefon, wo auch rund um die Uhr jemand erreichbar ist. Wenn eine Frau anrufen würde und sagen: ‚Ja, ich bin in Not, ich brauche Hilfe‘, dass sie da schon mal Ansprechpartner hat. Und dann haben wir noch ein sogenanntes Flohmarkt-Team, die gespendete Kindersachen verkaufen, um eben den Erlös auch der Babyklappe zugutekommen zu lassen. Im sogenannten Klappen-Team haben wir jetzt glaube ich so 5 bis 7 Frauen, wir haben auch ein Familien-Team, wir haben auch einen Mann dabei – da hat sich auch ein bisschen was verändert im Ehrenamt – die sich diesen Dienst teilen.“
Mirka. „Warum entscheidet man sich denn bei so einem Projekt mitzumachen? Also was sind die Beweggründe?“
Ursula Kunz: „Ich glaube, die Personen, die da mitarbeiten, denen ist es einfach ein Anliegen einer Frau, die in Not ist, die Möglichkeit zu geben, ihr Kind gesund abzugeben und nicht irgendwo am Wegesrand ablegen zu müssen oder es irgendwo zu hinterlassen, sondern eine gute Möglichkeit zu haben, das Leben des Kindes zu schützen und gleichzeitig eben auch sich aus dem Leben des Kindes zu verabschieden.“
Mirka: „Die meisten haben ja wahrscheinlich nicht so viele Berührungspunkte mit einer Babyklappe. Tatsächlich habe ich von dem Projekt vorher auch noch nicht so viel gehört. Wie läuft das dann ab? Ab dem Zeitpunkt, an dem die Frau sich entscheidet, das Baby abzugeben? Können Sie vielleicht mal so ein bisschen den Verlauf beschreiben von, die Frau entscheidet sich bis zu was passiert mit dem Baby?“
Ursula Kunz: „Genau diese Entscheidungsphase begleiten wir in der Babyklappe nicht mit. Wir sind dann eigentlich mit dem Vollzug der Entscheidung konfrontiert. Wir wissen aber aus manchen Gesprächen, dass die Frauen sich sehr gut übers Internet informieren. Wo ist eine Babyklappe? Wie finde ich da hin? Das vorher vielleicht auch mal angucken, um sicher zu sein, dass das auch was ist, was funktioniert. Oder dass es tatsächlich auch noch da ist, wenn das Kind dann bei uns angekommen ist – Also sprich die Mutter oder irgendeine Person, die das Kind übergeben hat. Da hat man auch keine Sicherheit, ob das wirklich die Mutter ist oder irgendeine andere Person. Ab dem Zeitpunkt, wo die Klappe geschlossen ist und der Alarm bei uns aufpoppt, ist das Kind nicht mehr lange alleine in dieser Babyklappe, sondern dann kommt sofort eine unserer Mitarbeiterinnen oder ein Mitarbeiter und kontrolliert, was ist nach dem Alarm passiert? Also es ist nicht immer ein Baby, wenn ein Alarm ausgelöst wird. Es können auch neugierige Spaziergänger gewesen sein. Oder es hat auch schon mal jemand eine Spende einfach in die Babyklappe reingestellt. Aber wenn dann ein Kind in der Babyklappe ist, dann wird es erst mal begrüßt und aus dem Wärmebett genommen. Also hinter der Klappe befindet sich ein Wärmebett das permanent auf 37 Grad beheizt ist. Man weiß ja nicht, wo die Kinder herkommen, ob sie schon einen längeren Weg hatten. Und unsere Mitarbeiterin braucht auch ein paar Minuten, bis sie da ist, dass das Kind nicht einfach noch weiter auskühlt. Und dann macht unsere Mitarbeiterin da erst mal ein Foto von diesem Kind, wie es aussah zum Zeitpunkt der Übergabe. Das machen wir deswegen, weil, falls sich jemand meldet, wir das erst mal abfragen können, um zu wissen: Ist es tatsächlich die Person, die das Kind übergeben hat? Oder hat es irgendjemand nur gelesen, dass es ein Baby in der Babyklappe gegeben hat und versucht vielleicht ein schnelles Adoptionsverfahren irgendwie hinzukriegen? Dann bekommt das Kind bei uns neue Kleidung. Also die Kleidung von dem Kind wird auch erst mal von der Polizei untersucht auf DANN-Spuren, nur für den Fall, dass in der Klinik vielleicht ein Kind entführt wurde und das möglicherweise das Baby ist, das bei uns in der Babyklappe ist.“
Mirka: „Wie oft ist das schon passiert?“
Ursula Kunz: „Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. Ich hatte tatsächlich schon Anfragen von Kriminalpolizei aus sonst wo her, ob bei uns in dem und dem Zeitraum eine Übergabe stattgefunden hatte, weil ein Kind verschwunden ist. Und dann ist es gut, wenn man eine DNA-Spur hat oder sagen kann: ‚Nee, also in dem Zeitraum war bei uns überhaupt nichts.‘ Also es ist auf keinen Fall um die Mutter zu verfolgen, sondern nur um sicherzustellen, dass nicht irgendein Missbrauch mit diesem Kind passiert ist. Und dann rufen unsere Mitarbeiter in der Kinderklinik an, dass es eine Übergabe in der Babyklappe gegeben hat und dann wird dieses Kind transportbereit gemacht. Also sprich angezogen, warm eingepackt, je nach Wetterlage und im Kindersitz verpackt, in die Kinderklinik gebracht. Und dann ist eigentlich unsere Aufgabe auch schon vorbei. Also sobald das Kind in der Kinderklinik ist, ist es in Obhut des Krankenhauses, wird versorgt, wird untersucht und das Jugendamt wird informiert. Die Vormundschaft wird informiert, dass es eben eine Übergabe gegeben hat und das Jugendamt die Obhut übernehmen muss. Und es ist wirklich nur eine Übergabesituation, eine ganz kurze Situation, emotional ein wahnsinniger Kraftakt. Also alle Frauen, die ein Kind in der Babyklappe entgegengenommen haben, sagen, das ist so ein bewegender Moment und emotional wirklich auch schwierig, weil einem da so viele Sachen durch den Kopf gehen. Man ist in Gedanken bei der Mutter, wie es der wohl geht, was die wohl mitgemacht hat, ob sie die Geburt gut überstanden hat? Gleichzeitig rührt einen auch dieses Baby, das da so ganz alleine auf der Welt ist, unglaublich an. Und ja, das Jugendamt würde da eine Pflegefamilie suchen, die das Kind erst mal aufnimmt, wenn es aus dem Krankenhaus entlassen ist. Und wir warten dann in der Regel so acht bis maximal zwölf Wochen, ob sich vielleicht doch noch mal jemand meldet von den leiblichen Eltern, die leibliche Mutter und vielleicht auch ein Beratungsprozess zustande kommt. Das ist dann manchmal so wie eine nachgeschobene Konfliktbearbeitung – neun Monate zu spät, um dann eben auch zu entscheiden: Bleibe ich bei dieser Entscheidung oder will ich das Kind vielleicht doch wieder zurück?“
„Je mehr Zeit vergangen ist, umso schwieriger ist es auch.“
Mirka: „Wie lange habe ich Zeit dafür? Also wenn ich mich umentscheiden würde, wie lange kann ich mein Baby wieder zurückhaben?“
Ursula Kunz: „Eigentlich geht es fast ein Jahr lang. Also die sogenannte Adoptionspflege dauert in der Regel ein Jahr und das ist für die Adoptiveltern auch eine ganz schwierige Situation, weil die in diesem einen Jahr wirklich in der Angst leben, dass die leiblichen Eltern, die leibliche Mutter, sich vielleicht wieder meldet und sagt Ich habe es mir anders überlegt, ich will mein Kind doch wieder haben. Was dann natürlich auch nicht so von heute auf morgen gehen würde. Also das ist dann schon ein längerer Prozess, bei dem auch viele öffentlichen Akteure eingebunden sind, sprich Jugendamt. Und ja, es geht stark um das Thema Kindeswohl. Je länger das Kind von der Mutter getrennt war, umso mehr muss man natürlich auch gucken. Ist es sinnvoll, das Kind jetzt wieder zurückzuführen? Könnte es vielleicht auch ein Pflegeverhältnis werden oder was auch immer sich daraus entwickelt. Letzten Endes ist das Kindeswohl dafür ausschlaggebend, ob eine Mutter ihr Kind wieder zurückbekommt oder nicht. Und je mehr Zeit vergangen ist, umso schwieriger ist es auch. Kinder entwickeln dann Bindungen und es ist schon hart für Adoptiveltern und das Kind, dann eine Bindung eben wieder aufgeben zu müssen. Aber auf der anderen Seite ist natürlich auch das Elternrecht ein sehr starkes Recht. Und wenn eine Mutter sich da sehr dafür einsetzt und eigentlich auch nichts dagegenspricht, dass sie das Kind wieder aufnehmen könnte, dann hat sie da schon sehr gute Chancen.“
„Die meisten sind wirklich total neugeboren“
Mirka: „Und in welchem Zustand werden die Babys abgegeben – im Normalfall?“
Ursula Kunz: „Die meisten sind wirklich total neugeboren, also sprich am Tag der Geburt oder vielleicht ein, zwei Tage später. Selten mal, dass ein Kind älter ist. Ich glaube, wir hatten auch mal ein drei Monate altes Baby in der Babyklappe. Aber die meisten sind ja komplett neu geboren und waren mit Sicherheit nicht lange mit ihren Müttern zusammen.“
Mirka: „Und wie viele Babys werden im Jahr abgegeben?“
Ursula Kunz: „Im Jahr kann man so nicht sagen. Es ist unvorhersehbar. Es kann immer passieren und es kann auch immer nicht passieren. Wir hatten Zeiträume, da gab es ein, zwei Jahre – also der längste Zeitraum war mal vier Jahre – dass keine Übergabe war. Wir hatten auch schon mal eine Situation, wo wir am Anfang der Woche und am Ende der Woche ein Baby hatten. Also es weiß niemand.“
Mirka: „Und zu welcher Tageszeit werden die Babys für gewöhnlich abgegeben?“
Ursula Kunz: „Meine Fantasie war immer, dass man das nur nachts macht, wenn man durch die Dunkelheit geschützt ist. Aber die Realität sagt jede Tages- und Nachtzeit.“
Mirka: „20 Jahre ist dieses Projekt alt. Und Sie selber machen das jetzt. Wie lange?
Ursula Kunz: „Zehn Jahre?“
Mirka: „Zehn Jahre. Haben Sie das Gefühl, in diesen zehn Jahren hat sich gesellschaftlich viel verändert?“
Ursula Kunz: „Also was diese Thematik angeht, muss ich sagen leider nein. Ich dachte immer, mit dem Zeitalter des Internets und der ständig verfügbaren Informationen wäre es vielleicht kein Thema mehr, dass Frauen keinen Zugang zu Informationen haben, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, wenn ich ungewollt schwanger bin oder wenn ich mein Kind anonym abgeben möchte. Aber diese Situation scheint so einengend für die Frauen zu sein, dass es auch nicht mehr möglich ist, im Internet zu recherchieren und irgendwelche Informationen zu beschaffen. Also nicht nur, dass im Umfeld niemand eingeweiht wird, nicht nur, dass man sich aus seinem Leben isoliert und zurückzieht, auch das Internet scheint irgendwie keinen Zugang mehr zu bieten.“
„Ich kann bei jeder einzelnen Frau, die ich kennengelernt habe, die Beweggründe verstehen“
Mirka. „Wie gut können Sie denn Frauen verstehen, die ihr Baby abgeben? Oder haben Sie das Gefühl, das ist so eine ausweglose Situation, dass man keine andere Alternative dazu hat?“
Ursula Kunz: „Früher hätte ich, glaube ich, auch wenig Verständnis dafür gehabt, als ich noch nicht in diesem Bereich tätig war. Seit ich in der Schwangerenberatung arbeite und ganz besonders natürlich eben so in diesem Kontext – auch anonym die Kinder abgeben zu wollen, zu müssen – muss ich sagen, ich kann bei jeder einzelnen Frau, die ich kennengelernt habe, die Beweggründe verstehen und mich mit der Situation von den Frauen so identifizieren, dass ich diese Entscheidung nicht in Frage stelle.“
Mirka: „Haben Sie das Gefühl, dass durch die Babyklappen weniger Babys getötet werden, oder haben Sie das Gefühl, das hat überhaupt keinen Einfluss darauf?“
Ursula Kunz: „Es hat vielleicht einen geringen Einfluss, aber ich glaube, dass weder die vertrauliche Geburt noch die Babyklappe Kindstötungen verhindern werden. Ich glaube, dass es ganz andere Problemsituationen von Frauen sind, die nach der Geburt ihre Kinder töten. Im Affekt. Wie auch immer, es wird immer eine Zielgruppe oder eine Personengruppe geben, für die keines dieser Angebote geeignet ist.“
Mirka: „2008 gab es ja auch schon einen Vorfall in Hannover, da ist ein Baby in der Babyklappe erfroren. Wie häufig sind solche Vorfälle wirklich oder kommen uns solche Vorfälle häufiger vor, weil über solche Vorfälle auch ausgiebig berichtet wird?“
Ursula Kunz: „Also ich glaube, dass es tatsächlich nicht so häufig vorkommt. Wir hatten selber auch 2008 ein totes Baby in der Babyklappe, wo aber hinterher festgestellt wurde, das Kind war schon tot, als es in die Babyklappe gelegt wurde. Die Todesursache war leider nie zu ermitteln. Man hat dann auch irgendwann die Ermittlungen eingestellt. Es gab natürlich kriminal polizeiliche Untersuchungen dazu, auch medizinische Untersuchungen des Leichnams. Aber aus Respekt vor dem Kind hat man es nicht auf die Spitze getrieben. Unsere Fantasie war damals, dass vielleicht jemand dem Kind eine gute Beerdigung ermöglichen wollte und deswegen die Babyklappe gewählt hat. Vor kurzem, ich glaube, es war in diesem Jahr im Frühjahr gab es in Köln einen ähnlichen Vorfall, dass ein Kind tot neben der Babyklappe war. Aber mir sind jetzt nicht so viele Vorfälle bekannt.“
„Da waren viele Fragen offen“
Mirka: „Wie viele Babyklappen gibt es denn überhaupt in Deutschland? Ist das üblich, dass jede Stadt eine Babyklappe hat? Oder hat das nur jede zweite Stadt oder nur verschiedene Zentren?“
Ursula Kunz: „Auch das ist was, was sich im Dunkel bewegt. Babyklappen sind kein offizielles Angebot, es sind private Initiativen oder Initiativen, die in kirchlicher Trägerschaft stehen. Babyklappen sind nicht meldepflichtig, nicht berichtspflichtig. Was auch eine große Kritik ist, weil man da natürlich auch bestimmte Dinge nicht einfordern kann. So zum Höhepunkt der Babyklappen in Anfang 2000, schätzt man, waren es 90 bis 100 Babyklappen in Deutschland. Und ich denke, dass mittlerweile einige die Arbeit eingestellt haben, weil es jetzt eben auch die vertrauliche Geburt gibt. Aber tatsächlich wissen ja, tue ich es nicht.“
Mirka: „Wie war das denn damals in Karlsruhe? Dieses Jahr ist 20-Jähriges Jubiläum, 20 Jahre Babyklappe in Karlsruhe. Wie schwierig war das denn damals, die Babyklappe aufzubauen?“
Ursula Kunz: „Das war nicht einfach. Es gab ein Ehepaar, das durch den Besuch des Parks in Hamburg, das war deutschlandweit damals die erste Babyklappe, so berührt war von diesem Thema, dass sie eben in Karlsruhe auch eine Babyklappe ermöglichen wollten und sich dann nach einem Standort umgeschaut haben, wo diese Babyklappe eingerichtet werden kann. Und ja, in der Zeit war das wirklich eine ganz neue Idee, ausgelöst durch die vielen Schlagzeilen tot aufgefundene Kinder. Da hat sich es aus welchen Gründen auch immer einfach mal gehäuft. Und es gab viele private Initiativen, die gesagt haben, da muss ein Angebot her, das Leben der Kinder zu bewahren, wenn die Mütter sich das nicht vorstellen können. Und in Baden-Württemberg gab es damals noch keine Babyklappe. Man konnte auch auf keine Erfahrungen zurückgreifen. Es war auch nicht klar: Ist es was Rechtswidriges oder ist es was Legales oder ist es ein Graubereich? Macht man sich strafbar, wenn man so was anbietet? Also da waren viele Fragen offen. Abgesehen davon ja, was ist mit der Situation der Kinder? Also da gab es viele Professionen, die heftig miteinander diskutiert haben. Es war sehr kontrovers. Bis dann eben die Babyklappe in der Stiftung oder bei der Hardtstiftung – das ist eine große Mutter- und Kind-Einrichtung in Karlsruhe – eingerichtet wurde und einfach die Arbeit aufgenommen wurde. Es kamen dann auch noch einige Babyklappen in Baden-Württemberg hinterher, aber Karlsruhe war tatsächlich in Baden-Württemberg die erste. Und ich glaube in Pforzheim gab es noch was oder gibt es auch noch was. In Freiburg gibt es noch was, also schon an mehreren Standorten. Und ja, die Emotionen haben sich dann auch gelegt. Die Babyklappe ist nicht pausenlos benutzt worden. Ich glaube, das war auch so eine Befürchtung, dass auch Kinder abgegeben werden, die vielleicht behindert sind und von ihren Eltern nicht gewollt sind. Oder dass man durch ein Angebot auch eine Nachfrage schürt und dann einfach Kinder abgegeben werden, weil es die Eltern sich leicht machen wollen. Also es hat ganz viele Gedankengänge in Bewegung gesetzt, diese Idee, eine Babyklappe einzurichten.“
Mirka: „Und wie ist der Rückhalt heute in Karlsruhe?“
Ursula Kunz: „Ich glaube, es ist immer noch kontrovers. Also ein ganz bekanntes Argument ist: Man muss doch keine Kinder anonym abgeben. Es gibt doch ganz viele Hilfsangebote. Oder was man auch vom Thema Schwangerschaftsabbruch kennt: Man kann doch die Schwangerschaften austragen und die Kinder zur Adoption freigeben. Was so oberflächlich betrachtet natürlich ja klar ist, ist richtig so. Aber die individuelle Situation der Frauen ist ja eine ganz andere. Und ich glaube, es ist gut, dass man Angebote hat, die das Leben der Kinder schützen und die Frauen unterstützen. Aber wir sind auch aufgefordert, Respekt vor solchen Entscheidungen zu haben.“
„Es gibt mit Sicherheit zu viele Eltern, die gerne ein Neugeborenes hätten“
Mirka: „Sie haben jetzt Schwangerschaftsabbrüche angesprochen. Also ich persönlich könnte mir, in meiner Perspektive nicht vorstellen, abzutreiben. Ich würde es wahrscheinlich nicht machen, aber ich respektiere Frauen, die abtreiben, dass das ihre eigene Entscheidung ist. Wie sehen Sie das denn?“
Ursula Kunz: „Da geht es mir auch so, dass ich da bei den Frauen bin. Dass ich es meistens ganz gut verstehen kann, dass in dieser Lebenssituation oder in der Partnerschaftskonstellation ein Kind einfach schwierig wäre. Das Leben kompliziert machen würde. Also ja, wir beraten natürlich immer in beide Richtungen. Auch den Weg zu beleuchten, was ist, wenn ich dieses Kind bekomme? Was gibt es an Unterstützung, worauf kann ich bauen? Aber wenn eine Frau sich dann nach reichlicher Überlegung dazu entscheidet, die Schwangerschaft lieber zu beenden, begegne ich dieser Entscheidung auch mit Respekt.“
Mirka: „Stichwort Adoption. Also mein Partner und ich, wir diskutieren sehr stark darüber, wie es denn später aussieht mit dem Kinderbekommen. Ob wir eigene Kinder bekommen oder ob wir doch lieber adoptieren möchten, weil man irgendwie das Gefühl hat, in die Welt heutzutage möchte man kein Kind setzen. Wie sehen Sie das? Ist das sinnvoll oder gibt es auf diesen Adoptionen viel zu viele Eltern, die auch gerne ein Kind hätten?“
Ursula Kunz: „Also es gibt mit Sicherheit zu viele Eltern, die gerne ein Neugeborenes hätten. Den Bedarf kann man glaube ich tatsächlich gar nicht decken. Was ältere Kinder angeht, da ist dann die Angebotssituation schon wieder besser. Ich weiß nicht, ob für mich persönlich eine Adoption infrage gekommen wäre. Ich weiß auch nicht, ob ich mich so bewusst für eine Mutterschaft hätte entscheiden wollen. Ich bin einfach irgendwann mal schwanger geworden. So rein theoretisch war das in Ordnung. Aber wenn ich es auf einen Zeitpunkt hätte festlegen müssen, hätte ich, glaube ich, immer gesagt: ‚Nee, jetzt noch nicht und jetzt auch noch nicht und jetzt auch noch nicht.‘ Von daher war es gut so, wie es war. Ich finde, es hat schon eine Berechtigung zu überlegen: Ein eigenes Kind ja oder nein. Oder eben doch einem Kind ein Zuhause zu geben, dass so kein Zuhause haben könnte. Aber das sind auch sehr individuelle Entscheidungen und auch da kann man sich natürlich beraten lassen. Bei Adoptionen, Vermittlungsstellen, die auch sehr in die Tiefe gehen. Also zumindest hier in Karlsruhe schätze ich die Arbeit der Adoptionsstellen sehr. Also dadurch, dass wir sehr eng zusammenarbeiten im Kontext Babyklappe und Vertrauliche Geburt, kenne ich die Arbeit ganz gut. Und ich weiß, dass die Familien oder Adoptionswillige Paare sehr gut begleiten und natürlich auch nicht nur die schönen Seiten besprechen, sondern auch das, was schwierig werden kann bei einer Adoption. Und ich habe einfach so aus meinem beruflichen Hintergrund einige Adoptionsgeschichten mitbekommen, die sowas von schief gegangen sind. Jetzt geht man natürlich heutzutage mit dem Thema Adoption auch anders um.“
Mirka: „Auf welche Art schief gegangen?“
Ursula Kunz: „Ja, früher hat man es den Kindern oft verheimlicht, dass sie adoptiert sind. Die Kinder haben das aber irgendwie doch gespürt, dass irgendwas anders ist. Also zumal dann auch, wenn noch doch noch leibliche Kinder dann in die Familie kamen. Und ich habe früher in der Jugend- und Heimerziehung gearbeitet und hatte in dem Kontext mit vielen Adoptivkindern zu tun, bei denen die Familien zerbrochen sind, bei denen die Kinder so auffällig geworden sind, dass die Eltern sich entschieden haben, die Erziehung in andere Hände zu geben. Aber das war auch eben dem damaligen Umgang mit dem Thema Adoption zuschulden zu legen, weil oft haben die Kinder das durch einen Zufall herausgefunden und da bricht natürlich eine Welt zusammen. Und dass das eine Familie komplett auf den Kopf stellt oder auch überfordert, ist nachvollziehbar. Heutzutage geht man mit dem Thema anders um. Also alle Adoptionseltern bekommen eigentlich die Empfehlung, es den Kindern von Anfang an zu sagen, dass sie nicht die leiblichen Eltern sind. Und ich glaube, das ist eine gute Voraussetzung, dass eine Adoption einen viel besseren Verlauf nehmen kann.“
„Da habe ich gewusst, ich kann diese Arbeit eigentlich nur machen, wenn ich mich auf die Seite der Mütter schlage“
Mirka: „Was ist denn so das einschneidenste Erlebnis gewesen, was Sie in diesen zehn Jahren hatten?“
Ursula Kunz: „Ich glaube, das war für mich damals, als ich neu in der Babyklappe war. Ich wollte ich natürlich auch alles mal erleben, was damit im Zusammenhang steht und habe dann auch mir die Situation in der Kinderklinik anschauen wollen. Wenn die Kinder da sind, wie die da versorgt werden, wie das gewuppt wird. So kleine Kinder sind ja nie alleine in der Kinderklinik. Das sind in der Regel immer die Eltern dabei. Und das erste Kind in meiner Amtszeit habe ich dann auch in der Klinik besucht und da habe ich gemerkt, dass kann ich nicht aushalten. Also diese 50 Zentimeter Mensch in dieser Einsamkeit auch zu erleben, das hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Und da habe ich gewusst, ich kann diese Arbeit eigentlich nur machen, wenn ich mich auf die Seite der Mütter schlage oder eben für meine Ehrenamtlichen da bin. Aber für die Kinder ist das Jugendamt da, ist die Adoptionsvermittlung, da sind die Pflegefamilien da. Das ist eine Schwelle, die kann ich nicht nehmen. Und was mich bei allen Kindern, die ich so erlebt habe, sei es jetzt im Kontakt – also unsere Ehrenamtlichen, besuchen die Kinder dann zum Teil auch in der Klinik, bis die Bereitschaft zu Pflege da ist, tragen die rum, füttern die, damit sie eben nicht so alleine sind – was auch Adoptiveltern oder Pflegeeltern erzählt haben oder wie ich die Kinder selbst erlebe ist, dass sie so unglaublich ruhig sind, so als wenn sie es schon mit dem Blut aufgenommen hätten, dass man nicht auffallen darf, dass diese Kinder sehr still sind, mit sehr großen Augen, sehr interessiert ihre Umgebung wahrnehmen. Und wenn, wenn dann Körperkontakt da ist, man so das Gefühl hat, da ist so viel Bedarf da, dass die schier in einen rein kriechen möchten. Das ist mir jetzt bei allen Kindern aufgefallen oder bei allen Erzählungen auch aufgefallen, die ich eben berichtet bekommen habe, wie die Anfangszeit mit den Kindern war. Und das ist schon was sehr Bewegendes, dass die Kinder das sozusagen durch die Mutter schon spüren, nicht auffallen, kein Lärm machen. Auch die schwangeren Bäuche der Frauen sind manchmal kaum sichtbar. Das ist ein Phänomen, das kann man sich gar nicht vorstellen, dass eine Frau hochschwanger ist und man das nicht sieht. Aber es ist auch eine unglaubliche Arbeit des Unterbewusstseins, eben auch körperlich den Schein zu wahren, dass da keine Schwangerschaft vorliegt. Und diese Phänomene, die bewegen mich schon sehr in diesem Zusammenhang.“
Mirka: „Jetzt noch eine Frage zum Abschluss Was an Ihrer Arbeit bestärkt Sie denn, weiter diesen Beruf auszuüben?“
Ursula Kunz: „Ich glaube, das Gefühl für die Frauen, die in solch einer Situation sind, wirklich so was wie ein Anker sein zu können, also einfach Stabilität und Sicherheit zu geben und eine Anlaufstelle zu sein, bei der man mit dieser unmöglichen Vorstellung: Ich bin schwanger, ich will mein Kind nicht und irgendwie muss es geregelt werden, da Frauen zur Seite stehen kann.“
„Dass die Babyklappe vielleicht eines Tages tatsächlich überflüssig wird, wäre ein schöner Traum“
Mirka: „Haben Sie zum Schluss noch irgendwas, was Ihnen auf dem Herzen liegt?“
Ursula Kunz: „Ja. Also wenn dieses Thema vertrauliche Geburt so bekannt ist, dass Frauen das selbstverständlicher darüber verfügen können, dann wäre viel gewonnen, weil einfach mit der vertraulichen Geburt die Frauen einen Ansprechpartner haben, die medizinische Versorgung gewährleistet ist, die Kinder eines Tages was über ihre Herkunft erfahren können, die Kinder auch im Anschluss an die Geburt gleich in der Klinik versorgt werden können. Und einfach die Hemmschwelle nicht so hoch ist. Dieses ja gesellschaftlich nicht gewollte Gedanken, so dass Schwangere nicht immer strömen vor Glück und überglücklich sind und kaum erwarten können, bis ihr Kind geboren wird. Dass da einfach auch eine Akzeptanz in der Gesellschaft entsteht und dass die Babyklappe vielleicht eines Tages tatsächlich überflüssig wird, wäre ein schöner Traum. Wobei ich eben auch über die Babyklappe in Karlsruhe sehr glücklich bin. Auch über die vielen Menschen, die da mitarbeiten, die das unterstützen. Weil das ist ein wunderbares Team aus Ehrenamtlichen, die sich da wirklich sehr engagieren und auch sehr selbstlos engagieren. Und wenn das nicht so ein schönes Team wäre, wäre ich auch nicht zehn Jahre dabeigeblieben.“
Mirka: „Dann bedanke ich mich ganz herzlich für dieses Gespräch. Also ich habe auf jeden Fall eine ganze Menge heute mitnehmen können und ganz viele Dinge erfahren, die ich vorher so gar nicht wusste. Und dafür bedanke ich mich ganz herzlich.“
Ursula Kunz: „Danke, gerne. Vielen Dank auch Ihnen.“
Mirka: „Tschüss!“
Ursula Kunz: „Tschüss!“
Folge 3: Lena Dieterle - Rechtsanwältin
Mirkas dritter Gast ist Lena Dieterle, Rechtsanwältin und Strafverteidigerin aus Karlsruhe. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn, der ihr zur Berufswahl verholfen hat. Jetzt versucht die Anwältin Menschen, die recht haben, zu ihrem Recht zu verhelfen. Schon im Referendariat hat Dieterle mitbekommen, dass recht haben und Recht bekommen, aber nicht immer das Gleiche ist. Was ihr schlimmster Fall war und welchen Mandaten oder Mandantinnen die Anwältin gar nicht erst vertreten würde, hört ihr in der neuen Folge vom Podcast Bunte Grauzone.
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Grauzone Podcast_Folge 3_Lena Dieterle_Strafverteidigerin Mirka
Die Podcastfolge zum Nachlesen:
„Das besonders Tragische an dem Fall fand ich, dass dieses junge Mädchen dann durch diese Sache an Bulimie erkrankt ist und da an den Folgen von der Bulimie später dann gestorben ist noch als Teenager.“
Mirka: Hallo und herzlich willkommen zur dritten Folge Grauzone. Den Podcast, in dem wir mit Frauen reden, die in ungewöhnlichen Berufen arbeiten oder die in ungewöhnlichen Situationen leben. Mein Name ist Mirka und das ist mein nächster Gast
Lena Dieterle: Aber das besonders Tragische an dem Fall fand ich, dass dieses junge Mädchen dann durch diese Sache an Bulimie erkrankt ist und da an den Folgen von der Bulimie später dann gestorben ist noch als Teenager.
Mirka: Lena Dieterle arbeitet als Strafverteidigerin in Karlsruhe. Die Anwältin setzt sich mit Leidenschaft für das Recht ihrer Mandanten und Mandatinnen ein.
Also das Studium an sich ist okay, Examen danach ist schon ein Hammer.
Mirka: Können Sie ein bisschen erklären, was ist denn Ihr Beruf?
Lena Dieterle: Hallo erstmal und schön, dass ich dabei sein darf. Also als Rechtsanwältin habe ich eigentlich einen sehr vielseitigen Beruf. Das fängt an bei Telefonaten, Schriftsätze erstellen, Gerichtstermine wahrnehmen, auch mal in die JVA gehen oder in das psychiatrische Klinikum. Je nachdem, wo man seinen Mandanten halt eben hat. Viel findet aber tatsächlich hier am Schreibtisch statt, so dass man viel beschäftigt ist mit Schriftsätzen oder eben mit Telefonieren, Emails. Und so weiter. Genau.
Mirka: Das Jurastudium ist ja auch so ein ziemlicher Knochenjob. Also zumindest habe ich das so von einigen Freunden miterlebt. Wie schwer ist es denn, durch das Studium zu kommen?
Lena Dieterle: Also das Studium an sich finde ich eigentlich okay. Es ist so, dass die Noten, die man im Studium erzielt, gar nicht zählen. Es gibt zwar Noten, man muss nur bestehen, aber das Examen am Ende, das ist dann der Knaller. Da habe ich mich tatsächlich dann auch gar nicht richtig gut vorbereitet gefühlt. Sondern da war ich dann total einfach überrascht, wie schwer das dann doch auch ist und was da verlangt wird. Und das ist auch was, was dann doch sehr lange dauert. Die Vorbereitung dann darauf, obwohl man eigentlich denkt, dass man mit dem Studium soweit schon fertig ist, alle Kurse zum Beispiel schon belegt hat und Klausuren geschrieben hat. Also das Studium an sich ist okay, Examen danach ist schon ein Hammer.
Mirka: Und wie läuft das denn danach ab? Dann haben Sie das Examen gemacht und wie bewirbt man sich dann im weiteren Verlauf?
Lena Dieterle: Also wir brauchen ja noch ein zweites Examen, Das heißt, nach der Uni und dem ersten Examen sind wir dann erst mal im Referendariat. Das kennen ja viele vom Lehramtsstudium auch. Da ist man dann zwei Jahre bei einem Gericht. Da war ich zum Beispiel beim Landgericht Karlsruhe und da durchläuft man verschiedene Stationen. Und erst danach kommt noch das zweite Staatsexamen und erst danach ist man dann eigentlich richtig fertig und dann würde die Bewerbungsphase losgehen. Dann kann man sich einfach bewerben, bei Anwaltskanzleien oder auch bei Gericht oder der Staatsanwaltschaft.
Mirka: Sie sind ja relativ am Anfang. Wie schwer war es dann, einen Fuß in die Tür reinzubekommen?
Lena Dieterle: Ich habe davor schon als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kanzlei gearbeitet. Das war nicht ganz schwierig, so einen Platz zu finden. Und hier bin ich jetzt selbstständig. Und tatsächlich ist mir das auch so ein bisschen zugeflogen, muss ich gestehen. Ich habe mich hier beworben – eigentlich für eine Anstellung. Und dann hat mir die Kanzlei aber angeboten, dass ich hier mit eintrete als selbstständige Rechtsanwältin. Und das habe ich dann einfach so angenommen. Deswegen war es für mich jetzt ganz okay. Aber am Anfang habe ich tatsächlich gerade im Strafrecht doch lange gesucht, bis ich da dann eine Anstellung finde. Bis dann eben das jetzt hier aufkam.
Mirka: Was sind denn generell die Schwierigkeiten für Berufseinsteiger im Jura Bereich?
Lena Dieterle: Ich denke, das kommt darauf an, ob man jetzt selbstständig ist oder ob man angestellt ist. Gerade bei der Selbstständigkeit ist das größte Problem oder die größte Schwierigkeit natürlich an Mandanten zu kommen, weil niemand weiß, dass man existiert oder dass es einen gibt und wer man ist. Und das war am Anfang eher ein bisschen schwierig, aber das kann man dann doch ganz gut händeln, gerade auch mit der Onlinepräsenz. Da ich jetzt hier eine Bürogemeinschaft bin, sind ja hier schon zwei andere Anwälte und eine Anwältin, die mich dann zum Beispiel auch weiterempfehlen können. Und ansonsten – Die Schwierigkeit ist eben, dass man alles, was man theoretisch gelernt hat, jetzt auch in die Praxis umsetzt. Und da sind es manchmal so die kleinsten Dinge, wo man, wo man sich total aufhält, zum Beispiel zu welchem Gericht muss ich jetzt eigentlich, wo muss ich jetzt die Klage einreichen oder darf ich das jetzt per Fax schicken? Oder muss ich das per Post schicken? Per Einschreiben? Das sind so Sachen, die lernt man ganz kurz so im Studium und man weiß die dann auch in der Klausur. Aber wenn man dann jetzt dasitzt und das jetzt entscheiden muss und das ist ja dann auch sehr wichtig ist, wenn man da ja eine große Verantwortung hat, dann ist es schon manchmal ein bisschen schwierig. Aber da kommt man dann rein und findet da eine Routine.
„Das Problem war eher, dass ich eine JUNGE Frau bin“
Mirka: Wie ist es denn gerade als junge Frau – Also wird man von den Kollegen oder auch von den Mandanten auch ernst genommen?
Lena Dieterle: Ich muss sagen, ich hatte da jetzt noch keine Probleme. Also Sie haben es schon richtig gesagt. Das Problem war eher, dass ich eine JUNGE Frau bin, nicht, dass ich eine Frau an sich bin. Da hat mal eine Mandantin gesagt, als sie reinkam: „Oh, Sie sind aber noch jung. Können Sie das auch?“ Aber das hat sich dann gelegt. Und wenn man die Mandanten oder Mandantinnen dann von sich überzeugen kann, dann ist das auch eigentlich kein Problem.
Mirka: Ich wollte schon immer Journalistin werden. War es bei Ihnen auch so, dass Sie schon immer Anwältin werden wollten oder wie es dazu gekommen, dass Sie Anwältin geworden sind?
Lena Dieterle: Ich wollte auch schon lange Anwältin werden, und zwar aus dem Grund, weil ich immer so ein bisschen diesen Gerechtigkeitssinn in mir hatte und immer dachte: Oh ja, die Leute, die eigentlich recht haben, aber nicht zu ihrem Recht kommen, den will ich helfen und die unterstützen. Das ist jetzt so ein bisschen klischeehaft, natürlich. Genau das war tatsächlich der Gedanke dahinter. Während dem Studium oder eigentlich danach, dann während des Referendariats habe ich dann relativ schnell gemerkt, dass recht haben und Recht bekommen nicht das Gleiche ist und dass es so einfach auch nicht immer ist. Einfach, dass es von ganz vielen Faktoren immer abhängt, ob man jetzt zum Beispiel einen Prozess gewinnt oder nicht. Aber ich mache das trotzdem noch gern und ich setze mich trotzdem auch immer noch aus dem Grund eigentlich für meine Mandanten und Mandantinnen ein, einfach weil ich ihnen zu ihrem Recht verhelfen möchte.
„Da ist sogar der Richter etwas ausgetickt und hat dann rumgeschrien“
Mirka: Verhandlung kenn ich in den meisten Fällen nur aus Serien und da ist es das, was Sie gesagt haben. Dieses recht haben und Recht bekommen auch immer total unterschiedlich. Und es wird ja auch immer überdramatisiert. Aber wie ist es denn jetzt im richtigen Leben? Also ist es genauso dramatisch wie das immer dargestellt wird? Oder ist es doch alles eher bodenständiger?
Lena Dieterle: Das kommt total drauf an, also es gibt so und so Verhandlungen. Es gibt Verhandlungen, wo die Mandanten dann irgendwann den Ordner oder die Papiere vom Tisch vor ihnen runter schmeißen, weil sie so aufgebracht sind und wo es zum Beispiel auch dann Rufe aus dem Publikum gibt. Das gibt es schon auch. Oder ich war auch einmal bei einer Verhandlung, das war von einer Kollegin von mir. Da ist sogar der Richter etwas ausgetickt und hat dann rumgeschrien – was natürlich nicht geht. Das kann man natürlich nicht machen. Aber so was passiert auf jeden Fall. Aber es gibt auch ganz viele Verhandlungen, die total still ablaufen. Also gerade in Zivilrecht-Streitigkeiten vor allem, das sind die Mandanten oft nicht mal da. Da sitzen dann zwei Anwälte oder Anwältinnen da und ein Richter oder eine Richterin und dann sprechen die ein bisschen über den Fall und dann ist es nach 15 Minuten erledigt und dann ist es total langweilig. Also es gibt tatsächlich beides.
„Es sollte nicht so sein, dass wir uns alle nur die Rosinen rauspicken.“
Mirka: Wo ist denn Ihre Grenze? Also, welche Mandanten würden Sie auf keinen Fall annehmen?
Lena Dieterle: Also überhaupt gar nicht. Ist immer ein bisschen schwierig. Aber ich habe so zwei Kategorien, die ich nicht übernehmen würde. Und das sind zum einen Menschen, die rechtsradikal sind und zum anderen sind es Menschen, die Sexualdelikte begangen haben bzw. nicht Menschen, die Sexualdelikte begangen haben. Aber an sich Sexualdelikte übernehme ich grundsätzlich nicht.
Mirka: Und manchmal muss man dann ja auch Leute vertreten, die ganz eindeutig schuldig sind. Wie kann man das denn mit dem Gewissen vereinbaren?
Lena Dieterle: Es ist ja so, dass wenn man jemanden vertritt, dass man nicht immer auf Freispruch plädieren muss. Es geht ja nicht immer darum, dass man den Mandant oder die Mandantin dann irgendwie raushaut, sondern dass man einfach schaut, dass die Rechte des Mandanten oder der Mandantin gewahrt sind. Es passieren auch Fehler bei der Polizei oder bei einer Beweiserhebung. Und da muss man einfach schauen, dass das Verfahren fair bleibt. Wenn es die Möglichkeit auf einen Freispruch gibt, dann ist es sehr häufig deswegen, weil es eben nicht genug Beweise gibt. Und nur weil jemand angeklagt ist, heißt es ja noch lange nicht, dass er auch Täter oder Täterin ist.
Mirka: Auch Mörder und Kinderschänder stehen vor Gericht und haben dort auch einen Anwalt. Können Sie Anwälte verstehen, die diese Fälle übernehmen?
Lena Dieterle: Das kann ich absolut verstehen. Das gehört ja auch zu unserem Berufsfeld dazu. Es sollte nicht so sein, dass wir uns alle nur die Rosinen rauspicken. Ich finde es aber trotzdem legitim, dass man sagt, es gibt so ein paar Sachen, die ich einfach nicht übernehmen möchte, so wie ich es jetzt auch gemacht habe. Trotzdem brauchen solche Menschen einen Rechtsbeistand. Ich habe es ja vorhin schon gesagt. Wir leben in einem Rechtsstaat und da gehört der Grundsatz des fairen Verfahrens dazu. Und nur weil jemand angeklagt ist, war der es nicht grundsätzlich, sondern die Schuld muss erst noch bewiesen werden vor Gericht. Und es werden ganz viele Leute angeklagt, die es vielleicht nachher nicht waren. Und es ist super schwierig, sich alleine zu verteidigen. Und deswegen finde ich das richtig und wichtig, dass es Anwälte und Anwältinnen gibt, die auch so was übernehmen.
Mirka: Hat sich diese Einstellung eigentlich im Verlauf von dem Beruf geändert?
Lena Dieterle: Ich denke, die Einstellung hatte ich schon relativ früh. Gleichzeitig aber auch die Einstellung, dass ich wusste, dass ich das nicht machen kann. Gerade das mit den Sexualdelikten. Also ich wusste relativ früh, dass ich nicht die Richtige bin, um in solchen Delikten die Mandanten oder Mandantin zu vertreten. Einfach, weil ich da tatsächlich dann auch Gewissensbisse habe oder Gewissenskonflikte und das auch persönlich einfach sehr beeinflussen würde und ich dann wahrscheinlich meine Arbeit einfach nicht so gut machen könnte, wie ich sie machen müsste.
„Das war ein ganz heftiger Fall, muss ich sagen.“
Mirka: Was war denn Ihr schlimmster Fall?
Lena Dieterle: Mein schlimmster Fall. War. Das war, glaube ich, ein Fall. Nicht direkt mein eigener, sondern während des Referendariats habe ich bei einer Strafverteidigerin gearbeitet und die übernimmt tatsächlich eigentlich alle Delikte und alle Fälle. Und es war ein Fall, bei dem ein Mann Mitte 40 ein junges Mädchen, ich glaube, die war zwölf, dreizehn zum Sex gezwungen hat – also sie vergewaltigt hat – und sie dazu immer wieder überredet hat, sich da zur Verfügung zu stellen. Indem er sie bedroht hat und gesagt hat, dass er sonst ihrer Schwester das gleiche antun würde. Und so hat sie dann gezwungenermaßen das immer mitgemacht. Der wurde dann auch verurteilt. Aber ich fand besonders Tragische an dem Fall, dass dieses junge Mädchen dann durch diese Sache an Bulimie erkrankt und da an den Folgen später gestorben ist. Noch als Teenager. Das war ein ganz heftiger Fall, muss ich sagen.
Mirka: Das ist wirklich total heftig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man auch so was dann verarbeitet. Wie haben Sie das dann auch für sich verarbeitet?
Lena Dieterle: Ich sollte tatsächlich damals einen Schriftsatz verfassen in dieser Sache. Ich war da ja angestellt bei der Rechtsanwältin, konnte da nicht einfach sagen: Nee, das mache ich nicht. Und dann habe ich es natürlich auch gemacht. Und meine Vorgesetzte hat aber dann mich tatsächlich darauf angesprochen, gesagt: „Ich habe schon gemerkt, da haben Sie sich jetzt nicht so reingehängt wie sonst immer. Und dann konnte ich da tatsächlich dann mit ihr ein bisschen drüber sprechen. Wir hatten da aber einfach ein bisschen andere Ansichten. Sie ist da einfach viel distanzierter. Was auch wichtig ist, dann, wenn man das macht. Und ich habe sonst da mit meiner Familie mal drüber gesprochen. Aber ansonsten bin ich damit dann schon klargekommen. Aber es hat mich nachhaltig beeindruckt, einfach weil es ein heftiger Fall war.
Mirka: Aber diese Distanz? Baut man die über Jahre hinweg auf oder ist sie von Anfang an da?
Lena Dieterle: Ich denke, das ist eher was, was man aufbauen muss. Also ich habe die zum Beispiel noch nicht immer bei meinen Fällen. Ich nehme manchmal auch was gedanklich mit nach Hause. Ich denke, das muss man aufbauen. Das kommt vielleicht mit dem Lauf der Zeit. Umso mehr Fälle man hat, umso distanzierter wird man da. Wobei man natürlich auch nicht total distanziert sein sollte. Man darf nicht vergessen, dass das alles Menschen sind und nicht nur Aktenzeichen oder sowas.
Mirka: Was war Ihr schönster Fall? Es gab ja sicher auch positive Momente.
Lena Dieterle: Positive Momente gibt es auf jeden Fall. Aber ein schöner Fall. Ich überlegte, wie ich einen schönen Fall definieren würde. Ich denke, schön wäre es auf jeden Fall, wenn der Fall erfolgreich ausgeht. Aber ich muss natürlich auch dann irgendwie dahinterstehen. Hinter dem Ergebnis. Also ich glaube, so einen richtig schöner Fall fällt mir da jetzt gerade nicht ein. Ich hatte natürlich erfolgreiche Fälle, aber die waren jetzt irgendwie nicht super, besonders deswegen.
„Ganz so cool ist es aber dann doch nicht“
Mirka: Anwalt und Jura. Und alles, was damit zu tun hat, damit habe ich tatsächlich nur durch Film und Fernsehen Kontakt. Ansonsten ist mein Kontakt dazu eigentlich relativ spärlich. Welcher Film oder welche Anwaltsserie trifft denn die Realität am meisten und welcher Film und welche Serie ist der größte Quatsch?
Lena Dieterle: Also ich kenne kein Film, der die Realität gut trifft, muss ich gestehen. Weil es alles immer irgendwie total anders ist, als es im realen Leben ist. Ich habe auch schon Anwaltsfilme geschaut oder Serien. Und gerade Suits kennen die meisten wahrscheinlich. Und es ist auch eine ziemlich coole Serie. In der das supercool dargestellt wird. Ganz so cool ist es aber dann doch nicht. Oder nicht so einfach und nicht so lässig, wie es da manchmal dargestellt wird. Man sieht da zum Beispiel nie die Anwälte der Anwältin richtig am Tisch sitzen und die Schriftsätze verfassen. Und das ist ja eigentlich die Hauptarbeit, sondern die sind immer nur in irgendwelchen coolen Gesprächen und hauen da dann einen raus. Und das ist weit hergeholt. Es gibt natürlich auch in Deutschland Wirtschaftskanzleien. Da ist das vielleicht noch ein bisschen ähnlicher, aber das hat nicht so viel mit der Realität zu tun.
Mirka: Gerade wenn man jetzt bei Suits bleibt. Da gibt es auch immer heiße Schlachten darum, wer am Ende Namenspartner in der Kanzlei werden kann. Ist das in Deutschland genauso.
Lena Dieterle: Also ich denke in den Großkanzleien, in diesen großen Wirtschaftskanzleien ist das schon auch ein bisschen so. Ich habe aber nie in einer Wirtschaftskanzlei oder einer Großkanzlei gearbeitet, deswegen kann ich das so genau nicht sagen. Jetzt, in so mittelständischen Kanzleien ist es, glaube ich, eher weniger der Fall.
Mirka: Es gibt ja auch in den USA diese geschworenen Gerichte. Haben Sie das Gefühl, dass das gerecht ist?
Lena Dieterle: Ich wäre eher nicht für dieses System. Ich finde das einfach schwierig, wenn so viele Menschen, die keine Rechtskenntnisse haben oder Laien sind, über so was entscheiden. Die haben schon eine große Wirkungskraft oder eine große Entscheidungsbefugnis. Die können da ja feststellen, ob jemand schuldig ist oder nicht. Das heißt, die stellen fest, ob jemand einen Straftatbestand erfüllt hat oder nicht. Aber genau das lernen wir in unserem langjährigen Jurastudium, wie man das macht. Und deswegen tue ich mich da tatsächlich ein bisschen schwer. Ich verstehe, dass man da so ein bisschen einen Puffer bringen wollte, vielleicht zwischen die Bevölkerung und das Justizsystem. Also den Gedanken, den kann ich schon nachvollziehen. Aber insgesamt finde ich das System eher nicht so gut.
Mirka: Wie ist es denn in Deutschland aufgebaut? Also wie kann man sich das in Deutschland vorstellen? Weil wir haben das ja hier gar nicht.
Lena Dieterle: Genau. Also Geschworene haben wir hier nicht. Wir haben aber tatsächlich auch Laien mit in den Gerichtssälen. Und zwar gibt es bei uns die Schöffenrichter und -richterinnen. Das sind auch ehrenamtliche Personen und die haben auch keine Vorkenntnisse. Und die haben das gleiche Stimmrecht wie die anderen Richter oder Richterinnen. Das heißt, bei uns sind schon auch Laien mit involviert, aber einfach in einem anderen Maß.
„Ich glaube, man sagt, dass Zeugen oder Zeuginnen die schlechtesten Beweismittel sind“
Mirka: Also ich habe so ganz vage meine Erinnerung, dass wir früher in Sozialkunde dann ein Gericht besucht haben. Und da gab es eine Verhandlung, in der sich die Zeugin total in Widersprüche verstrickt hat. Aber es war halt trotzdem eine Zeugin da und letztendlich hat dann die Seite Recht bekommen. Ist sowas gerecht, oder wie frustrierend ist es dann, wenn so was passiert als Anwalt?
Lena Dieterle: Ich glaube, man sagt, dass Zeugen oder Zeuginnen die schlechtesten Beweismittel sind. Eben genau deswegen, weil alles auf persönliche Eindrücke auch irgendwie zurückzuführen ist. In einer Verhandlung, da fühlt sich jeder unter Druck gesetzt, wenn man da als Zeuge aussagen muss. Und da kommt es total häufig vor, dass man da mal was sagt, was man vielleicht nicht mehr so ganz genau weiß und sich dann ganz schnell in Widersprüche verstrickt. Das ist natürlich ärgerlich für die Seite, die den Zeugen oder die Zeugin als Beweismittel aufgeführt hat. Aber man kann da auch so ein bisschen entgegenwirken und vorher Gespräche mit denen führen. Aber man darf die natürlich auch nicht beeinflussen. Die sind ja zu Wahrheit verpflichtet und man macht sich ja auch strafbar, wenn man vor Gericht falsch aussagt. Deswegen muss man da auch als Anwalt oder Anwältin aufpassen, dass man da nicht irgendwie zu viel beeinflusst.
Mirka: Aber wie ist das denn mit den Verhören? Also sind die genauso, wie man es sich vorstellt, dass sie richtig unter Druck gesetzt werden vor Gericht? Oder ist das dann eher ein lockeres Gespräch zwischen Anwalt und Zeuge?
Lena Dieterle: Das kommt auf den Anwalt oder die Anwältin an. Ich versuche da immer respektvoll miteinander umzugehen, auch in so einer Verhandlung. Aber manchmal muss man schon Fragen mit ein bisschen mehr Nachdruck stellen. Weil sich manche Zeugen auch einfach ganz leicht rausreden, indem sie sagen: „Ah, ich erinnere mich da jetzt nicht dran“, aber eigentlich erinnern sie sich trotzdem dran. Und dann kann man ihnen einfach auch Sachen vorhalten. Aber es gibt tatsächlich auch Anwälte und Anwältinnen, die da eher einen derben Ton sozusagen draufhaben und dann nicht sehr rücksichtsvoll sind. Und denen ist es dann auch egal, wie der Zeuge oder die Zeugin sich gerade fühlt. Hauptsache, sie kommen so an ihr Ziel. Es gibt schon auch ja.
Mirka: Wir haben gesagt, Zeugen sind die schlechtesten Beweise, die man haben kann. Was sind denn bessere Beweise?
Lena Dieterle: Na ja, zum Beispiel. Denken Sie mal an eine Videoaufnahme von der Tat. Das ist natürlich super, wenn man das hat. Und manchmal ja auch Tonbänder, die irgendwas aufnehmen. Oder Fotos oder irgendwelche Urkunden, jetzt gerade zum Beispiel im Zivilrecht oder kann man auch im Strafrecht benutzen. Wenn es jetzt Verträge gibt, die unterschrieben sind oder so. So was ist natürlich besser, weil die einfach die Sachen schon belegen. Und bei Zeugen – Man weiß im Endeffekt nie, ob sie tatsächlich jetzt die Wahrheit sagen.
Mirka: Und wer sammelt diese Materialien zusammen, also diese Beweismittel?
Lena Dieterle: Grundsätzlich ist es natürlich die Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaft, da im Strafrecht ja die Unschuldsvermutung gilt. Es ist erst mal deren Aufgabe, Beweise gegen eine bestimmte Person zu sammeln oder einen Sachverhalt eben zu ermitteln. Aber natürlich kann man auch oder sollte man auch als Anwalt oder Anwältin Beweise sammeln, die das Gegenteil beweisen können. Deswegen macht man das tatsächlich auch als Anwalt oder Anwältin.
Mirka: Wie ist denn das Verhältnis untereinander. Also die Darstellung in Film und Fernsehen ist ja häufig so, dass die beiden Anwälte sich eher bekriegen, als dass sie miteinander arbeiten. Ist das wirklich so ein Krieg?
Lena Dieterle: Also im Strafrecht gibt es meistens nur einen Anwalt oder eine Anwältin und auf der anderen Seite eben die Staatsanwaltschaft. Also ein Bekriegen habe ich jetzt noch nicht erlebt, aber es vertritt schon jeder meistens seine Meinung sehr deutlich und manchmal gerät man da dann auch aneinander. Aber es ist jetzt nicht so, wie in den Filmen häufig ist. In Amerika gilt ja auch der Parteienprozess, meine ich. Das heißt, die Staatsanwaltschaft ist eine Partei, und der Verteidiger oder die Verteidigerin ist eine Partei. Und in Deutschland ist es ja grundsätzlich nicht so, da ist ja die Staatsanwaltschaft zur Neutralität verpflichtet oder zur Objektivität. Inwieweit sie das dann immer macht, das kann ich jetzt nicht beurteilen. Aber der Grundsatz ist eben so. Wenn die Staatsanwaltschaft in Deutschland Anhaltspunkte hat, dass der Täter oder die Täterin eben sich nicht strafbar gemacht hat, dann sind sie auch verpflichtet, da ein Freispruch zu erwirken oder das Verfahren einzustellen.
„Aber wenn man sich mal die Studien anschaut, dann zeigt es eigentlich, dass höhere Strafen oder auch Strafen an sich nicht immer was bringen“
Mirka: Gibt es denn Dinge in Ihren Augen, die am deutschen System verbessert werden können?
Lena Dieterle: Also was mir da spontan einfallen würde wäre das Strafensystem. In der Gesellschaft gibt es ja immer wieder laute Schreie nach höheren oder längeren Strafen für Straftäter oder -täterinnen. Aber wenn man sich mal die Studien anschaut, dann zeigt es eigentlich, dass höhere Strafen oder auch Strafen an sich nicht immer was bringen. Und wir wollen eigentlich eher in einer Gesellschaft leben, in der es weniger Straftaten gibt. Also sollten wir vielleicht schauen, wie wir präventiv arbeiten können, anstatt danach immer zu sanktionieren.
Mirka: Man sieht es ja auch immer wieder, wenn man irgendwie auf Facebook oder Instagram unterwegs ist, wenn wieder irgendwie eine Vergewaltigung war oder so, dass dann Leute drunter schreiben: Also ich hätte den Typen sofort umgebracht oder so was. Also so quasi ein Aufruf zu Selbstjustiz. Also ich persönlich finde das auch immer sehr befremdlich und bin sehr froh, dass wir in einem System leben, in dem das nicht der Fall ist, dass Selbstjustiz gewürdigt wird. Was würden Sie denn solchen Menschen dann sagen?
Lena Dieterle: Was würde ich solchen Menschen sagen, dass sie sich vielleicht mal in die Situation von demjenigen hineinversetzen sollen. Dass sie sich fragen sollen, ob das den nicht auch mal hätte passieren können? Jetzt, bei einer Vergewaltigung ist das ein bisschen schwierig. Das lehnen viele hier kategorisch ab, was ja auch gut ist. Aber zum Beispiel gab es mal einen Fall bei uns in der Nähe, das war eine fahrlässige Tötung im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall. Und da wurden genau solche Sachen eben auch gesagt, dass so jemand doch getötet werden muss. Und ich fand es total befremdlich, weil genau so was, das kann jedem von uns passieren – also so ein Verkehrsunfall. U nd dass da jemand gestorben ist, das hat ihn schon selbst sehr belastet und der musste dann auch ins Gefängnis. Aber dass man dann sagt: „Och, zwei Jahre ist überhaupt nicht genug dafür, so groß wie die Schäden sind.“ Ich kann das schon verstehen, aber das ist einfach ein Drama, so ein tragisches Ereignis, das da passiert ist. Und da darf man nicht für die Folgen immer dem Täter die Schuld geben.
Mirka: Was wäre denn, wenn man jetzt keine Strafen gibt? Was wäre denn alternativ besser?
Lena Dieterle: Ja, das ist eine schwierige Frage. Ich habe da natürlich jetzt auch nicht die perfekte Lösung. Ich finde einfach, dass präventive Arbeit viel wichtiger ist. Also dass man zum Beispiel in sozialen Brennpunkten mehr tätig wird. Oder einfach am Beispiel von Pädophilie und Kindesmissbrauch. Das sind ja zwei verschiedene Sachen und viele werfen das aber in einen Topf. Pädophilie ist ja nur die sexuelle Neigung, mit Kindern sozusagen seine Fantasien ausleben zu wollen. Und Kindesmissbrauch ist dann die tatsächliche Auslebung dieser Fantasie und es darf eben nicht vermischt werden. Viele haben eben schon total die Vorurteile gegen Pädophile. Weil sie denken: „Ah, das ist ja ein Kindesmissbrauch“, aber das ist ja gar nicht so. Der hat nur diese Neigung. Und alle Pädophile werden total abgelehnt und ausgegrenzt. Es gibt eine Studie, die besagt hat, dass 90 Prozent der Psychotherapeuten oder -therapeutin nicht mit Pädophilen arbeiten will. Das ist doch verrückt. Wo sollen die denn sonst hingehen, wenn sie feststellen, dass sie pädophil sind?
Mirka: Vor allem, wenn man bedenkt, dass es eine sexuelle Neigung. Und die Leute können ja gar nichts dafür, dass sie diese Neigung haben.
Lena Dieterle: Also die fühlen sich manchmal eh schon total schlecht und fragen sich: „Warum habe ich diese Neigung, warum genau ich?“ Aber die versuchen das dann zum Beispiel nicht auszuleben. Aber wenn sie keine Unterstützung bekommen, sowohl von der Gesellschaft als auch von den Psychotherapeuten oder Psychotherapeutinnen. Wie sollen die denn sonst damit umgehen? Und dann ist es irgendwie dann auch logisch, dass es dann einfach zu einem Übergriff kommt. Also ich will das überhaupt gar nicht gut reden oder runter reden. Ich sage nur, wenn wir da präventiv zum Beispiel bei dem Thema mehr machen würden und diese Leute nicht so ausgrenzen würden, die darunter leiden, dann könnte man da vielleicht einfach schon viel vorbeugender arbeiten.
Mirka: Was ist denn das größte Vorurteil Ihnen gegenüber als Rechtsanwältin?
Lena Dieterle: Vielleicht, dass ich spießig wäre oder pingelig? Oder dass ich jetzt alles wüsste, was mit dem Recht zu tun hat? Das stimmt alles nicht.
Mirka: Wahrscheinlich ist das Rechtsgebiet so ein riesiger Haufen an Informationen und Wissen, das man ansammeln könnte.
Lena Dieterle: Ja, ja, genau das ist, man kann das nicht alles wissen. Niemand weiß das alles. Ständig gibt es neue Entscheidungen oder Gesetzesänderungen. Ich versuche in meinem Rechtsgebiet, also im Strafrecht, immer topinformiert zu sein. Und ich mache ja auch ein bisschen Zivilrecht noch nebenher. Da geht es auch noch. Aber wenn Sie mich jetzt was im Baurecht fragen, dann kann ich Ihnen da nichts sagen. Auch wenn ich da im Studium ein bisschen was dazu gehört habe. Aber das ist einfach zu viel, das kann man gar nicht alles kennen.
„Also ich muss sagen, ich bin da, glaube ich, jetzt kein Musterbeispiel“
Mirka: Anwälte und Richter müssen ja immer gut aussehen. Das kennen wir ja auch gerade aus Suits. Da wurde sich ja häufig drüber lustig gemacht, dass der eine Charakter eben nicht gut gekleidet ist. Wie viel Geld geben Sie denn für Ihre Garderobe aus?
Lena Dieterle: Also ich muss sagen, ich bin da, glaube ich, jetzt kein Musterbeispiel. Sie sehen, ich bin in Jeans und Pulli und Sneakers. Und genauso bin ich eigentlich auch jeden Tag hier. Ich mag diesen super schicken Kleidungsstil nicht so, und am Anfang habe ich mich da immer versucht anzupassen. Aber da habe ich gedacht: „Warum? Es schreibt mir gar niemand vor.“ Ich finde wichtig, dass man ordentlich gekleidet ist, aber ansonsten, finde ich, darf da jeder auch als Anwalt oder Anwältin anziehen, was er oder sie möchte. Das ist noch mal was anderes vor Gericht. Da komme ich dann auch in Blazer und Bluse, da habe ich ja dann auch die die Robe. Aber ansonsten bin ich da leger unterwegs und ich trage auch Second Hand Kleidung. Also ich gebe nicht viel für meine Garderobe aus. Aber da bin ich vielleicht, wie gesagt, nicht ganz klischeemäßig.
Mirka: Wie ist dann die Reaktion der Mandanten darauf?
Lena Dieterle: Also ich habe nie was Negatives gehört, muss ich sagen. Mich hat auch noch gar niemand darauf angesprochen. Es hat jetzt nie jemand gesagt: Ach, wie sehen Sie denn aus? Nee, also tatsächlich kam da noch nie eine Rückmeldung.
„Eine Partnerschaft nebenher ist aber überhaupt kein Problem“
Mirka: Ein weiteres Klischee ist natürlich auch, dass ein Anwalt mit dem Beruf verheiratet ist. Wie ist das denn bei Ihnen?
Lena Dieterle: Ich bin nicht mit meinem Beruf verheiratet. Ich arbeite zwar schon auch viel und manchmal nehme ich gedanklich auch was mit nach Hause, aber ich arbeite daran, dass ich das in Zukunft unterlasse, dass ich die Sachen einfach hierlasse und dass ich mir genug Freizeit auch gönne. Ich bin kein Workaholic. Aber ich glaube, das ist was, wo man drauf achten muss. Und genau dann geht es aber auch.
Mirka: Aber ist das nicht auch gut für den Mandanten, wenn man auch Freizeit hat?
Lena Dieterle: Ja, mit Sicherheit. Und vor allem ist man dann bei der Arbeit entspannter und nicht total im Stress und kann sich für den Mandanten oder Mandantinnen dann auch wieder mehr Zeit nehmen.
Mirka: Und wie ist das generell so mit Partnerschaften oder Kindern neben so einem Anwaltsberuf?
Lena Dieterle: Ich habe keine Kinder, deswegen kann ich zu den Kindern relativ wenig sagen. Eine Partnerschaft nebenher ist aber überhaupt kein Problem. Da denke ich, das ist ein Job wie jeder andere. Also ich denke, da gibt es Berufe, gerade wenn man in Schichten arbeitet, die da viel stressiger sind oder viel anspruchsvoller und nicht so gut mit einer Partnerschaft zu vereinbaren sind. Aber da sehe ich eigentlich gar keine Probleme.
Mirka: Gibt es etwas, was Sie finden, was in der Gesellschaft geändert werden muss in Bezug auf Recht und Gerechtigkeit?
„Und man sollte diese Leute nicht abstempeln“
Lena Dieterle: Vielleicht genau das, was wir vorher schon ein bisschen angesprochen haben. Dieses Bewusstsein, dass jeder mal in die Situation kommen könnte und dass man sich dann auch Verständnis von anderen wünscht, dass das für viele eine Notlage ist. Und viele Leute haben noch nie mit dem Gesetz zu tun gehabt und sind dann in der Situation, weil sie einmal falsch abgebogen sind. Und das sollte einem vielleicht einfach mal ein bisschen bewusster werden. Und man sollte diese Leute nicht abstempeln. Und gerade dieser Schrei nach längeren Strafen oder der Todesstrafe oder was es sonst noch alles gibt, das sollte man einfach noch mal ein bisschen hinterdenken.
Mirka: Dann sind meine Fragen schon am Ende und ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Lena Dieterle: Sehr gerne. Danke Ihnen.
Mirka: Tschüss.
Lena Dieterle: Tschüss.
Folge 4: Müllfrau Kim
„Es war ein Zufall“
Mirka: Das ist ja ein schon sehr ungewöhnlicher Beruf, gerade für Frauen. Wie kommt das denn, dass du Fahrerin von einem Müllauto bist?
Kim: Also ich wollte einfach in einen Beruf, bei dem ich viel draußen und auch nicht alleine bin, bei dem ich ein Team habe. So ist es dann gekommen, dass ich mich überhaupt bei der Müllabfuhr beworben habe. Ich habe jetzt noch 30 Jahre vor mir, die ich arbeiten muss. Und dann war da natürlich der Hintergedanke: 30 Jahre lang den Beruf, der doch schon sehr körperlich anstrengend ist, weiterzumachen. Was gäbe es denn noch so für Möglichkeiten, da weiterzumachen, ohne jetzt den Betrieb wechseln zu wollen oder zu müssen? Das war für mich relativ schnell klar. Ich möchte auf gar keinen Fall da weg. Also ich habe mich da gut eingelebt. Ich fühle mich da wohl. Und dann gab es intern eine Ausschreibung, dass der Führerschein bezahlt werden würde. Natürlich dann auch mit der Stelle, dass man sich bewerben kann und dann den LKW fährt. Ich fahre total gern Auto. Ich mag auch große Autos und auch den Bezug zum LKW fand ich schon immer super und habe mich dann darauf beworben. Und heute darf ich ihn fahren.
Mirka: War das schon so ein Wunsch als kleines Mädchen? Wenn ich groß bin, dann werde ich Müllfrau?
Kim: Nee, tatsächlich nicht. Ich glaube, es gibt sehr wenige, die heute bei der Müllabfuhr arbeiten, die sagen: ‚Ja klar, ich wollte das im Kindergarten schon immer und ich wusste es und es war schon immer so.‘ Nein, es war ein Zufall. Ich habe einen Beruf gelernt, der ziemlich anstrengend war und in dem man relativ schlecht verdient. Und dann kam irgendwann der Punkt, dass ich gesagt habe: ‚Okay, willst du das jetzt noch 50 Jahre weitermachen oder machst du jetzt was anderes?‘ Und habe mich dann durch ganz verschiedene Berufe durchgeschlängelt. Ich habe mir ganz viel angeguckt und irgendwann ist dann das Müllauto beim Spazierengehen vorbeigefahren. Und dann dachte ich: ‚Okay, könnte man ja probieren, ich bewerbe mich drauf.‘
Mirka: Das ist ja ein Beruf, in dem Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Wie ist es denn, als Frau in den Beruf zu arbeiten?
Kim: Man merkt die Eindrücke. Die Leute, die einen sehen. Es ist immer noch: ‚Huch, da ist ja eine Frau, es ist kein Mann.‘ Ich glaube, das ist so der größte Unterschied – das Arbeiten an sich. Für meine Kollegen, war es die größere Umstellung. Also dass da plötzlich eine Frau mit herumhopst. Ich spüre nicht diesen Riesenunterschied, dass ich jetzt anders wäre. Es ist für mich selber ganz normal. Also inzwischen wahrscheinlich sehr normal.
„Man hat sich wie so ein rohes Ei gefühlt“
Mirka: Du hast gesagt, für deine Kollegen ist das eher so eine Umstellung. Gehen die denn respektvoll mit dir um?
Kim: Am Anfang war es schwierig. Man hat sich wie so ein rohes Ei gefühlt, weil sie nicht genau wussten: Wir haben ganz andere Gespräche. Normal auf dem Auto können wir jetzt nicht mehr. Es ist eine Frau drauf. Es hat wirklich eine ganze Weile gedauert, bis sie gemerkt haben, dass ich nur ein ganz normaler Mensch bin. Und es hat eine Weile gedauert, bis wir so den Punkt hatten, dass sie dachten: ‚Okay, alles klar, wir können jetzt auch ganz normale Gespräche führen.‘ Wenn so ein Satz kommt oder wenn sie über ihre Frauen erzählen, was natürlich bei so vielen Männern oft der Fall ist oder oft das Thema ist, dann merkt man schon, dass sie sich dann fragen: ‚Dürfen wir das jetzt überhaupt oder können wir das jetzt überhaupt sagen?‘
Mirka: Hast du andere Kolleginnen?
Kim: Wir sind tatsächlich zu dritt. Angefangen hat es auch mit einer Frau, die auch anfangs geladen hat und heute auch fährt. Und dann gibt es noch eine Kollegin, die auch lädt, also Müllladerin ist.
Mirka: Was muss eine Frau denn mitbringen, wenn sie bei der Müllabfuhr arbeitet?
Kim: Körperliche Fitness – Also es ist schon ein sehr anstrengender Beruf und dann muss man sich den einen oder anderen Spruch vielleicht auch anhören können. Es ist halt eine Männerdomäne. Wir haben wahnsinnig viele Männer. Die sind unter sich. Und da kommt dann schon mal ein Spruch, den sollte man schon abkönnen. Also man sollte jetzt nicht gerade wegen jeder Kleinigkeit sehr schnell beleidigt sein.
Mirka: Also eine dicke Haut haben sollte man schon.
Kim: Genau, eine sehr dicke Haut.
Mirka: Warum hast du denn das Gefühl, dass es so wenig Frauen in dem Beruf gibt?
Kim: Die Frage wird tatsächlich oft gestellt. Aber es ist echt schwer das zu beantworten. Also zum einen glaube ich einfach, es ist ein körperlich sehr anstrengender Beruf. Dann ist er natürlich auch nicht so sauber. Es ist nicht so, dass man jetzt jeden Tag total verdreckt oder mit der Bananenschale auf dem Kopf nach Hause kommt. Aber natürlich wird man dreckig. Die Eimer sind dreckig. Man trägt Handschuhe, auch die sind dreckig. Wenn man sich dann mal irgendwo anfasst, ist man dreckig. Und ich glaube, das schreckt wahrscheinlich auch viele ab, weil man das wahrscheinlich auch mal so mit seinem Privaten dann vielleicht auch verbindet. Und dann sieht man natürlich auch nie Frauen. Also warum würde ich mich für einen Beruf bewerben, wenn ich kein Vorbild habe? Kleine Jungs, die das im Kindergarten sehen, sehen immer nur Männer. Und natürlich sagen die: ‚Ich will mal Müllmann werden, weil ich sehe nur Männer.‘ Ein kleines Mädchen würde nie sagen: ‚Ich will mal Müllfrau werden‘, weil man ihr das ja gar nicht vorzeigt, dass es das gibt und dass man es kann. Also ich wusste tatsächlich selbst nicht, dass es überhaupt Frauen gibt, bevor ich mich beworben habe.
Mirka: Hast du das Gefühl, dass so eine Frauenquote gerade in dem Beruf irgendwas bringen würde?
Kim: Es würde für die Arbeit selbst nichts bringen. Es würde das Bild vermitteln, dass auch eine Frau das kann. Also das es nichts ist, was unbedingt nur Männer können. Das auch eine Frau das darf. Und dass es nichts Ungewöhnliches ist, wenn das mal eine Frau macht. Das merke ich tatsächlich oft. Also bei Jüngeren weniger, aber bei allen über 60 merkt man das schon extrem. Man ist der Hingucker. Die Leute gucken so: ‚Huch, was ist denn das – eine Frau?‘ Ich würde nicht sagen, dass es negativ ist. Aber es fällt auf. Es fällt einfach so extrem auf. Und ich finde es manchmal schade, weil ich denke, wir leben heute. Heute kann jeder irgendwie jedes und alles werden. Und da ist das immer noch so besonders, dass da eine Frau hinterm Steuer sitzt oder auch die Mülltonne schiebt.
„Man stinkt nicht immer“
Mirka: Du hast gesagt, man stinkt ganz schön, wenn man diesen Beruf macht. Wie geht man denn damit um? Also wie hält man denn diesen Geruch von dem Müll den ganzen Tag lang aus?
Kim: Man stinkt nicht immer, es kommt immer drauf an. Natürlich, im Winter ist es viel angenehmer als im Sommer. Und dann kommt es darauf an, was man lädt. Wir haben verschiedene Kategorien. Es kommt nicht immer alles in die gleiche Tonne. Somit wird es auch getrennt geladen und dann kommt es natürlich drauf an. Also Biomüll im Sommer kann sich glaube ich jeder vorstellen – es ist immer so ein süßlicher Geruch. Es ist bei vielen Kollegen jetzt nicht gerade das, bei dem sie sagen: ‚Das ist absolut mein Highlight.‘ Und Papier riecht nicht. Also Papier ist schön. Wertstoffe ist auch was ganz Tolles. Natürlich riecht man dann auch selber nicht. Aber man gewöhnt sich daran. Also man gewöhnt sich tatsächlich auch an den Restmüll und die Gerüche, die der Biomüll auch im Sommer macht. Aber es braucht ein bisschen. Die Nase, gewöhnt sich da absolut dran.
Mirka: Also ich finde das schon beeindruckend. Also wenn ich überlege, dass wenn im Sommer so eine Müllabfuhr mit so einer Biomüllladung vorbeifährt, dass ich da schon teilweise würgen muss. Ich habe echt Respekt vor euch, dass ihr das einfach so wegsteckt.
Kim: Aber das ist der Moment. Wenn man nur den Moment riecht, dann kann ich mir vorstellen, dass das für jeden schon sehr erschreckend ist. Wir riechen es ja den ganzen Tag und irgendwann riecht man es einfach nicht mehr.
Mirka: Okay, man hat quasi so eine abgestumpfte Nase.
Kim: Genau.
„Alles was man kaufen kann, findet man irgendwann auch in der Mülltonne“
Mirka: Was war denn das Komischste, was du überhaupt im Müll gefunden hast?
Kim: Alles was man kaufen kann, findet man irgendwann auch in der Mülltonne. Erschreckend fand ich nur, dass man Dinge findet, die noch originalverpackt sind und teilweise sogar der Beleg dabei ist. Und das finde ich manchmal einfach schade. Also nicht erschreckend, sondern ich find es einfach schade, dass man etwas gekauft oder geschenkt bekommt und das dann einfach entsorgt. Da gibt es schönere Methoden als sie in die Tonne zu werfen.
Mirka: Hast du das Gefühl, dass dein Beruf dich sauberer gemacht hat?
Kim: Ich ärgere mich oft, wenn Leute einfach was auf den Boden schmeißen. Das tatsächlich schon. Und auch die Mülltrennung. Ich habe mich damit beschäftigt und versuche da schon darauf zu achten, dass die Banane nicht mehr in den Papierkorb fliegt oder andere Dinge sich getauscht haben, weil ich weiß, was am Schluss damit passiert. Wenn jeder so ein bisschen schaut, wo er welchen Müll hin macht, haben auch die später, nachdem wir es abgeholt haben, eine leichtere und vielleicht auch eine angenehmere Arbeit.
Mirka: Wie ist denn das mit Arbeitszeiten? Habt ihr auch feste Arbeitszeiten?
Kim: Ja, absolut. Es gibt feste Touren, die immer fest fahren. Wir fangen morgens an. Wir fangen zwar sehr früh an, haben auch nicht ganz so einen langen Tag. Aber wir haben immer feste Uhrzeiten.
„Es war natürlich alles Männer genormt“
Mirka: Und wie sind ansonsten die Arbeitsbedingungen.
Kim: Immer besser. Wir haben jetzt auch Frauenklamotten, das ist total toll.
Mirka: Hattet ihr das am Anfang nicht?
Kim: Überhaupt nicht. Es war natürlich alles Männer genormt. Das Umkleiden und das Gebäude waren für Männer ausgelegt. Frauen gab es früher noch nicht. Es gibt sie noch nicht so lange. Bei der städtischen Müllabfuhr ist es jetzt immer mehr im Kommen. Also es werden auch ein paar mehr Frauen. Also viele würde ich jetzt nicht sagen, aber immerhin ab und an verirrt sich doch noch jemand zu uns. Und da merkt man schon, dass die Stadt sich jetzt bemüht, natürlich auch den Frauen dementsprechend den Platz zu schaffen, den man dafür braucht, wie Umkleiden und Duschen. Und natürlich jetzt Arbeitskleidung, die passt. Hört sich komisch an. Aber der Herrenschnitt passt halt nicht immer so perfekt und das ist schon toll, wenn eine Hose dann sitzt und nicht fünf Kilometer zu lang und oben aber zu kurz ist.
Mirka: Ich stell mir vor, wie du dann irgendwie so einen viel zu langen Arbeitsanzug anhast und dann total darin untergehst.
Kim: Genau. Meistens ist alles viel zu groß, zu lang. Im Winter ist es egal, aber im Sommer – Ein bisschen eitel. Bin ich dann auch.
„Ich habe immer gesagt, ich arbeite bei der Stadt“
Mirka: Wenn du anderen Leuten sagst: ‚Ich bin eine Müllfrau‘ oder ‚ich arbeite bei der Müllabfuhr‘, wie sind denn die Reaktionen darauf?
Kim: Am Anfang habe ich das immer versucht zu vermeiden. Also ich habe immer gesagt, ich arbeite bei der Stadt. Viele fragen dann doch nach und dann gibt man dem auch nach und sagt: ‚Ich bin bei der Müllabfuhr, ich lade die Tonnen.‘ So war das am Anfang. Und ich muss wirklich sagen, es waren immer erstaunlich gute Reaktionen. Sie waren immer sehr neugierig, was genau man da macht. Und witzig war auch immer viele sagen ich mach’s voll toll. Ich wollte auch schon immer mal auf diesem Trittbrett hinten mitfahren. Ja, also ich muss sagen, so im Ganzen. Ich habe noch nie negative Erfahrungen gehabt, aber am Anfang hatte ich tatsächlich genau davor so ein bisschen Angst, also dass das so negativ gesehen wird. Aber ganz im Gegenteil, bisher immer nur im Positiven.
Mirka: Gibt es denn bei euch so eine gewisse Reihenfolge, wie man denn wo stehen darf oder gibt das so eine Hackordnung bei der Müllabfuhr?
Kim: Ja, das ist von Auto zu Auto, von Tour zu Tour unterschiedlich. Auf dem Trittbrett, da darf immer nur einer sein. Der andere muss laufen. Aber meistens ist es so, dass es eigentlich ganz gut passt im Auto selber. Na ja, wir haben so das rechte Fenster. Also es gibt genau einen Platz, der eben außer dem Fahrer ein Fenster hat. Und das ist halt gerade im Sommer so mit der begehrteste Platz, würde ich jetzt sagen, weil man natürlich, wenn man hart arbeitet, dann schwitzt man und wenn dann so vier Personen in so einem kleinen Auto sind, ist so ein Fenster Gold wert. Also so würde ich sagen, ist das Trittbrett im Sommer sehr begehrt und das Fensterplätzchen.
Mirka: Was macht dich denn stolz an deiner Arbeit?
Kim: Die Arbeit zu leisten. Also auch was für unsere Bürger zu machen und auch was Gutes zu machen. Weil ich glaube, es ist ganz wichtig ist, dass der Müll natürlich auch von den Haushalten wieder wegkommt. Also, dass man seinen Müll entsorgt. Und ich glaube, das macht mich am stolzesten – ein Teil von unserer Wirtschaft zu sein und was Gutes dafür zu tun.
„Wir haben Bezirke, da kann man sagen, die sind absolute Mülltrenner“
Mirka: Hast du das Gefühl, dass je nachdem, wo der Müll herkommt, dass es da Unterschiede gibt?
Kim: Absolut. Wir haben Bezirke, da kann man sagen, die sind absolute Mülltrenner, da wird wirklich jedes Papierchen aussortiert. Und dann haben wir natürlich auch Bezirke, wo wir wissen, dass es eigentlich egal wäre, mit welchem Auto wir da vorbeifahren. Und es ist auch völlig egal, welche Tonnen wir laden, weil man einfach merkt, dass den Menschen das nicht so viel bedeutet, da auf die Mülltrennung zu achten.
„Heute sehe ich das noch ein bisschen entspannter“
Mirka: Also ich habe das schon häufiger erlebt, dass Müllautos in Einbahnstraßen reingefahren sind und dass dann Autofahrer wild hupend dahinter standen, weil sie durch wollten. Und ich habe mir die ganze Zeit gedacht „Ey Leute, ihr kommt nicht vorbei, jetzt beruhigt euch doch mal und seid einfach entspannt.“ Aber wie ist denn die Reaktion euch gegenüber? Wurdest du deswegen schon mal dumm angemacht?
Kim: Ja. Gerade zu Uhrzeiten wie früh morgens sind die Leute noch nicht so richtig wach. Ich glaube, das passiert immer, aber man muss einfach relativ entspannt damit umgehen. Weil das kommt einfach sehr oft vor. Wir haben sehr viel schmale Straßen. Das Auto ist nun mal sehr groß und es sind nicht unbedingt nur die Einbahnstraßen. Es sind ziemlich viele Straßen, sag ich mal. Und natürlich, wenn man wartet, dass die Kollegen die Eimer holen und einhängen, das dauert seine Zeit. Mir ist das auch schon passiert im Urlaub: Ausgerechnet meine Kollegen stehen vor mir. Aber heute sehe ich das noch ein bisschen entspannter, weil ich natürlich weiß, wie es ist. Aber es kommen auch schon mal Leute. Zum Glück ist noch niemand ausgestiegen. Aber natürlich, die hupen. Es werden die Fenster runtergelassen und dann könnt ihr nicht mal! Und ich denke mir dann immer nur: Fragt doch einfach freundlich und wir fahren weg. Also ganz oft ist es so, wenn wir merken, es sind fünf, sechs oder sieben Autos und es staut sich extrem. Also ich habe noch keinen Fahrer erlebt, der dann sagt nee, jetzt bleibe ich erst recht stehen, sondern wenn es möglich ist, dann fahren die halt noch mal eine Runde oder man versucht irgendwie Platz zu machen, dass eben es nicht so ein riesen Staus kommt. Ich meine, wir wollen ja niemanden ärgern, wir wollen nur unseren Job machen.
Mirka: Aber verlängert das die Arbeit nicht total?
Kim: Na ja, es sind Minuten. Also natürlich, wenn man aufs Müllauto wartet, weil es halt einmal außen rum fahren muss und dann auch noch drei Ampeln oder so, sind es aber Minuten. Also wenn wir jetzt wegen jedem Auto eine Runde drehen würden, dann wären wir wahrscheinlich abends noch nicht fertig und dann würden sich die Leute wieder ärgern, weil wir so spät immer noch rumkurven. Aber wie gesagt, wir versuchen da schon unser Möglichstes, dass es nicht Riesenschlangen gibt und dass jeder noch pünktlich irgendwie zur Arbeit kommt.
Mirka: Wie sieht denn der Alltag bei euch aus? Also Anfang, Schicht, was macht ihr da bis zum Ende der Schicht?
Kim: Dienstbeginn ist normalerweise so: Wir ziehen uns erst mal um. Wir kommen in Alltagskleidung und verwandeln uns in diese orangen Männchen. Und dann geht es eigentlich auch schon los, dass man Richtung Auto geht. Also davor ist natürlich immer ein festgelegter Plan. Wer sitzt auf welchem Auto, wer fährt welches Auto? Unsere Autos sind alle schön durchnummeriert, dass es für alle sehr einfach ist. Und wenn die Tour komplett ist, dann fahren die raus und dann geht es eigentlich meistens auch schon los. Je nachdem, wie weit der Weg natürlich ist, haben manche noch zwei, drei Minuten im Auto. Dann wird entweder mehr oder weniger gesprochen. Das kommt immer drauf an, wie früh es morgens ist und ob man die Morgenmuffel im Auto hat oder eher so die Frühaufsteher. Dann geht es eigentlich auch schon los und dann wird gearbeitet bis zur Mittagspause. Die ist immer sehr unterschiedlich, je nach Tour, je nach Auto ist man mal draußen, mal im Amt. Ja, quer verteilt durch Karlsruhe, würde ich sagen. Nach der Pause geht es eigentlich auch schon wieder weiter bis zum Feierabend.
Mirka: Wie lange arbeitet ihr am Stück?
Kim: Das ist ein bisschen schwierig zu sagen, weil das Auto muss auch mal abgeladen werden und so. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Stunden es jetzt tatsächlich an einem Stück wären, weil wir doch immer wieder mal Pausen machen, weil das Auto dann auch mal ein paar Meter weiterfahren muss. Wir bewegen uns ja immer während der Arbeit. Also wir sind ja immer im Fortlaufenden, in einer Bewegung und daher ist es schwierig zu sagen unterschiedlich. Ganz unterschiedlich.
Mirka: Also ich wohne in einem Wohnhaus, in dem die Müllabfuhr nicht immer sofort an die Mülltonnen rankommt, sondern erst mal klingeln muss. Wie sehr nervt dich denn sowas?
Kim: Das kommt darauf an, wie schnell man die Tür aufmacht. Also ärgerlich ist es natürlich, wenn man da sehr viel Zeit verliert. Wenn man da fünf Minuten klingeln muss. Umso mehr Leute da sind, umso mehr hat man natürlich die Hoffnung, dass es schneller geht.
„Das größte Klischee ist tatsächlich, dass die Müllleute, die diesen Beruf nachgehen, unangenehm riechen“
Mirka: Was ist denn das größte Klischee, dass Menschen deiner Erfahrung nach mit Müllmännern oder Müllfrauen haben?
Kim: Ich glaube, das größte Klischee ist tatsächlich, dass die Müllleute, die diesen Beruf nachgehen, unangenehm riechen. Und dass es Männer in Latzhose sind, die keinen richtigen Schulabschluss haben, also die nicht hochgebildet sind. Was ich absolut sagen kann, das entspricht definitiv nicht der Wahrheit. Aber ich glaube, das ist so das typischste Klischee.
Mirka: Was braucht man denn als Ausbildung, um Müllmann oder Müllfrau werden zu können?
Kim: Man braucht tatsächlich keinen Abschluss. Also es gibt auch keine Lehre, die jetzt für die Müllabfuhr tätig ist. Da kann sich rein theoretisch jeder bewerben. Von daher kann und darf das jeder machen, der sich dafür körperlich und seelisch moralisch fit fühlt.
„Es fällt halt immer auf“
Mirka: Wie stehst du denn zu der Farbe Orange?
Kim: Mittlerweile mag ich sie total gern.
Mirka: Wie war das am Anfang?
Kim: Na ja, es ist halt schon sehr hell. Also man fällt sehr auf. Ich bin kein Mensch, der jetzt so gern im Mittelpunkt steht. Zum Beispiel, wenn man in der Mittagspause durch einen Laden läuft, um sich sein Frühstück oder sein Mittagessen zu holen. Es fällt halt immer auf. Also es ist so, mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Mittlerweile finde ich die Farbe ganz cool und gerade morgens so. Man weiß, man wird nicht überfahren, auch nicht von Fahrradfahrern. Hat also auch sein Vorteil.
Mirka: Ja, das ist tatsächlich gut. Ich fahre auch immer mit Warnweste rum, damit ich nicht überfahren werde, weil ich auch schon Negativerfahrungen gemacht habe. Du bist gerade Fahrerin, aber du bist auch schon hinten auf dem Müllauto gewesen. Was macht dir mehr Spaß?
Kim: Momentan würde ich sagen, das Fahren. Aber auch, weil ich es noch nicht so wahnsinnig lange mache. Ich habe aber genauso gern geladen. Das Müllauto fahren ist natürlich noch ein Stück weit anspruchsvoller.
„Ich kenne tatsächlich keine Müllfrau und ich habe auch noch nie davon gelesen, dass es eine gibt, die schwanger geworden ist“
Mirka: Wie ist das denn jetzt? Wenn du sagen würdest, ich möchte schwanger werden, zum Beispiel. Also nicht, ob du schwanger werden willst oder nicht, aber würde es dann prinzipiell gehen?
Kim: Gehen würde das wahrscheinlich schon. Schwierig wird es wahrscheinlich, weil wir ja keine flexiblen Arbeitszeiten haben. Ich weiß nicht, wie das wäre. Wir fangen ja immer zur gleichen Zeit an und die Tour würde ja sozusagen auseinanderbrechen, wenn einer plötzlich fehlt. Also ich glaube, es wäre relativ schwierig. Und da es aber auch hier kein Vorbild für mich gibt, ist die Frage schwer zu beantworten. Ich kenne tatsächlich keine Müllfrau und ich habe auch noch nie davon gelesen, dass es eine gibt, die schwanger geworden ist. Ich glaube, es wäre sehr schwer, dann Job und Kind zu verbinden, weil man doch relativ spät nach Hause käme.
Mirka: Was macht ihr denn an deinem Job am meisten Spaß?
Kim: Das Arbeiten im Team, das Arbeiten mit uns und mit den Menschen draußen, wenn sie nett sind und uns nicht anhupen, aber ansonsten so das Ganze drum herum. Ich fühl mich da extrem wohl. Man lernt unglaublich viel Neues dazu, eben weil ganz viele verschiedenen Charaktere kennenlernt. Man wechselt ja öfters auch mal so die Menschen auf dem Auto selber. Und ich würde sagen, es ist tatsächlich das Gesamtpaket. Also ich finde es total toll, auch auf dem Trittbrett hinten mitzufahren. Jetzt fahr ich total gern LKW. Ich würde nicht sagen, dass es diese eine bestimmte Sache gibt, die das ausmacht. Es ist einfach so, das Ganze drum herum.
„Ein ganzes Team, ein ganzes Auto, völlig umsonst da hingefahren, nur, weil jemand eine Stunde nicht abwarten konnte“
Mirka: Und was stört dich am meisten an deinem Beruf?
Kim: Was stört mich am meisten an meinem Beruf? Wenn Leute kein Verständnis haben für den Job und für die Zeit. Wir haben ganz oft auch Kunden, die sich ärgern, dass eine Tonne einen Zentimeter versetzt dasteht wie sie eben bevor wir gekommen sind stand. Das ärgert mich dann schon. Oder wenn Leute anrufen, die Tonne wäre nicht geleert, dabei ist sie leer. Das war einfach, weil sie früher angerufen haben, als wir schon da waren und man dann zusätzlich noch mal hinfahren, um noch mal nach der Tonne zu schauen. Man guckt in den Eimer und denkt „Ja, warum bin ich jetzt hergekommen?“ Ein ganzes Team, ein ganzes Auto, völlig umsonst da hingefahren, nur, weil jemand eine Stunde nicht abwarten konnte. Oder vielleicht das auch auf den nächsten Tag. Man kann ja auch sagen, ich rufe am nächsten Tag an. Und das kommt leider relativ häufig vor. Und so was ärgert mich extrem.
Mirka: Wir Deutschen sind ja dafür bekannt, dass wir die Mülltonnen immer sehr pünktlich rausstellen und dass, sobald eine Tonne draußen steht, alle plötzlich draußen stehen. Wie findest du das denn?
Kim: Kann ich so nicht genau sagen, weil in Karlsruhe die meisten Menschen die Tonnen ja nicht selber rausstellen müssen. Wir holen ja oft die Mülltonnen. Also es gibt auch Bezirke – ganz, ganz wenig – da ist es noch so und da kann man tatsächlich dieses Phänomen sehen, wenn eine Tonne draußen steht, meistens so die 20, nebendran, rechts und links, die kommen dann auch nach und nach. Also das Phänomen würde ich bestätigen.
Mirka: Aber ist es dann schön, wenn dann so die Tonnen schön draußen stehen?
Kim: Es ist sehr angenehm, man hat kein Klingeln, man kann einfach die Tonne nehmen, einhängen, sie wird geleert, man stellt sie zurück. Es macht das Arbeiten schon sehr viel einfacher.
„Also wenn wir das nicht hätten, das wäre schon eine größere Erleichterung“
Mirka: Was könnten wir denn tun, um deine Arbeit zu erleichtern?
Kim: Na, zum einen, wenn ich weiß, die Müllabfuhr kommt morgens, wäre es natürlich schön, die Türen offen zu lassen oder so zu verriegeln, dass wir rankommen. Das macht es um vieles einfacher. Dann die Mülltrennung wäre natürlich super. Und dass die Tonnen nicht so wahnsinnig schwer sind. Es gibt so dieses schöne Katzenstreu für jeden, der Katzen zu Hause hat. Viele entsorgen das durch den Hausmüll und füllen dann die ganze Tonne damit. Nur mit Katzenstreu kann sich glaube ich jeder vorstellen, wie wahnsinnig schwer das ist, wenn die dann noch über Treppen gezogen werden muss. Es macht keinen Spaß und der Rücken freut sich dann auch nicht so. Also wenn wir das nicht hätten, das wäre schon eine größere Erleichterung.
Mirka: Wie soll ich das Katzenstreu dann sonst entsorgen?
Kim: Ich meine, Katzenstreu kann man natürlich in den Restmüll machen, aber vielleicht nicht so in den Massen und vielleicht, wenn es doch mal so viel ist, das selber wegbringen. Es gibt ja in Karlsruhe viele Möglichkeiten, seinen Müll auch wegzufahren. Das macht natürlich mehr Arbeit.
Mirka: Willst du denn für immer Fahrerin bei der Müllabfuhr bleiben?
Kim: Ich will auf jeden Fall für immer beim Amt für Abfallwirtschaft bleiben, zumindest bei der Stadt. Ich fühle mich da extrem wohl. Ob ich jetzt die nächsten 30 Jahre fahre? Ich habe auch immer gesagt, ich bleibe auf jeden Fall Lader. Jetzt bin ich schon Fahrerin. Ich würde mir das Ende gerne offenhalten. Also jetzt im Moment würde ich sagen ja, aber ich würde es jetzt nicht ausschließen zu sagen, ich wechsle intern doch noch mal zu was anderem.
Mirka: Wie alt ist denn der älteste Müllmann, der bei euch ist?
Kim: Der älteste Müllmann? Weit über 60. Also wir haben viele, die jetzt in Rente gehen also und die das auch schon sehr, sehr lange machen. Also ich glaube 45 Jahre haben wir einige, die das erfüllt haben mit 45 Jahren im Amt.
Mirka: Sind die jetzt immer noch gut in Schuss, weil die die ganze Zeit so schwere Mülltonnen hochheben? Oder sind die doch langsam angeschlagen, so am Ende?
Kim: Also man merkt bei vielen natürlich der Rücken, die Knie, die Beine, also der menschliche Körper, der macht das nicht einfach lückenlos mit. Aber ich würde sagen, die, die das jetzt schon 40 Jahre machen, die haben sich wahnsinnig gut gehalten, sind körperlich sehr fit und bis auf die ich sag mal „normalen Beschwerden“ geht es denen relativ gut, würde ich sagen.
„Ich bin ganz happy mit meinem Verdienst“
Mirka: Wie viel verdient denn überhaupt so eine Müllfrau oder ein Müllmann?
Kim: Ich würde sagen, mehr wie ein Verkäufer. Das ist unterschiedlich, weil umso mehr Jahre wir im Amt tätig sind, desto mehr verdient man auch. Man kommt in andere Lohngruppen und dann kommt es natürlich darauf an. Natürlich verdient ein Fahrer ein bisschen mehr, weil er mehr Verantwortung hat als der Mülllader selbst. Aber ich muss sagen, ich bin ganz happy mit meinem Verdienst, weil man sich nach langer Zeit auch mal wieder einen Urlaub leisten kann. Das hatte ich früher nicht. Aber ich würde sagen, man verdient ganz okay. Ganz gut.
Mirka: Das ist doch ein schöner Abschluss. Also, wer sich noch nicht überlegt hat, Müllfrau oder Müllmann zu werden, der kann sich es ja jetzt überlegen.
Kim: Genau. Einfach mal ausprobieren.
Mirka: Einfach mal ausprobieren, genau. Also, ich danke dir auf jeden Fall ganz, ganz herzlich für dieses Gespräch. Es hat mir tatsächlich sehr viel Neues eröffnet, das ich noch so gar nicht wusste. Deswegen vielen, vielen Dank.
Kim: Sehr gerne.
Mirka: Tschüss.
Kim: Tschüss.